Berlin: Stephanie Moorkamp konnte im Frühjahr 2018 ein besonderes Jubiläum feiern: 20 Jahre als Kinderdorfmutter im Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V.. Mit ihren eigenen zwei Töchtern und ihrem Mann lebt die 47-Jährige in einer Familie mit sechs Kinderdorfkindern, die derzeit zwischen neun und elf Jahren alt sind. Im Interview fragten wir sie zu ihrem Alltag, ihren Erfahrungen und besonderen Erlebnissen wie dem Auftritt in der Überraschungsshow von Bülent Ceylan.

Wie kamen Sie vor 20 Jahren zum Albert-Schweitzer-Kinderdorf e.V.?

Ich wollte immer Erzieherin werden, weil mir die Arbeit mit Kindern so viel bedeutet. Ich habe zuerst als hinzukommende Erzieherin bei einem anderen Träger gearbeitet. Nach anderthalb Jahren dort bin ich eines Abends nach Hause gekommen und habe zu meinem Mann gesagt: ,Das reicht mir nicht. Ich möchte mehr Zeit mit den Kindern verbringen.‘ Er stand sofort hundertprozentig hinter mir, und so haben wir gemeinsam entschieden, dass ich mich als Hausmutter bewerbe. Der Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V. war beim Bewerbungsgespräch erst einmal zurückhaltend, weil wir beide mit 26 Jahren noch so jung waren und keine eigenen Kinder hatten. Aber für uns war es der richtige Weg, wir haben uns sehr um die Stelle bemüht. Wir wussten durch meine Arbeit schon sehr genau, was auf uns zukommt.

Wie war es, als ihre Töchter geboren wurden?

Meine Töchter sind jetzt 14 und 16 Jahre alt. Sie sind in diese Großfamilie hineingeboren und kennen es nicht anders. Es fiel ihnen nie schwer, sich daran zu gewöhnen, Mama und Papa teilen zu müssen. Beide sind sehr sozial, das Leben mit vielen Kindern ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Die Jüngste sagt immer, sie übernimmt den Laden hier irgendwann.

Manchmal, wenn ein neues Kind sehr viel Kraft und Zeit benötigt, kommt man an seine Grenzen. Gerade Kinder im Teenageralter wollen schon mal ihre Ruhe haben. Es macht mich sehr stolz, wenn die Jüngere in der Schule fröhlich erzählt, dass sie zehn Geschwister hat. Die Große hilft sehr gern den anderen bei ihren Schulaufgaben. Alle hier tragen unsere Familie mit.

Wie viele Kinder haben in den 20 Jahren hier gelebt?

Wir haben 15 Kinder großgezogen. Wenn die, die jetzt hier leben, ausziehen werden, werden mein Mann und ich gemeinsam aufhören. Zu vielen der 15 Kinder haben wir noch sehr guten Kontakt. Besonders zu den typischen Familienfesten wie Weihnachten und Ostern wird es hier recht voll. Zwei der Mädchen haben eigene Kinder und besuchen uns sehr gern. Es macht mich sehr stolz zu sehen, wie liebevoll sie jetzt mit ihnen umgehen.

Was sind die Voraussetzungen für die Tätigkeit als Kinderdorfmutter?

An erster Stelle steht die Liebe zum Kind. Ich habe mich schon als Jugendliche immer um Jüngere gekümmert und habe für meinen Berufswunsch nur eine Bewerbung geschrieben. Man macht gerade in den ersten zwei Jahren viele private Abstriche. Freundschaften werden auf die Probe gestellt, und das Leben als Paar oder Familie verändert sich grundlegend. Man muss vollständig hinter dem Konzept stehen. Ich sage immer, wenn man sich die ersten zwei Jahre freigeschwommen hat, dann ist es ein schönes Leben. Aber diese erste Zeit lebt man quasi nur für die Kinder. Sie bringen alle ihre eigene Geschichte mit, jeder muss sich erst an die anderen gewöhnen.

Junge Eltern können das nachvollziehen. Jetzt stellen Sie sich das mit sechs Kindern vor, die in ihrem Leben noch nie erfahren haben, was eine sichere Bindung ist. Der Vertrauensaufbau braucht seine Zeit. Auch die Teamarbeit muss sich einspielen mit den hinzukommenden Erzieherinnen und der Hauswirtschaftskraft. Zum Glück haben wir hier ein sehr stabiles Team, das die Arbeit mit den Kindern tatkräftig unterstützt. Jede Familiengruppe hat ihren eigenen Lebensstil – da haben wir viel Gestaltungsfreiraum. Man muss auf jeden Fall ertragen können, dass immer jemand im Haus ist.

Wie sieht Ihr Alltag aus?

Mein Wecker klingelt um sechs. Bis 7:30 Uhr müssen die Kinder schulfertig sein. Mein Mann füllt alle acht Brotdosen, bevor er zu seiner Arbeit als Bankkaufmann losfährt. Danach stehen Aufräumen, Einkaufen, Termine beim Jugendamt oder Therapeutengespräche an. Fünf der sechs Kinder bekommen entweder Psychotherapie, Logopädie oder Ergotherapie. Diese Gespräche helfen mir dabei, die Kinder besser zu verstehen. Um 14 Uhr findet das gemeinsame Mittagessen statt. 14:30 bis 18 Uhr stehen Hausaufgaben, Arzttermine, Sportverein oder Therapien an. Da kommt sicherlich keine Langeweile auf. Um 18 Uhr essen wir Abendbrot, bis 20 Uhr sind alle im Bett. Danach kümmere ich mich noch einmal um meine eigenen Kinder, die dann gegen 21 Uhr schlafen gehen. Danach bis etwa Mitternacht haben mein Mann und ich etwas Zeit für uns und eigene Angelegenheiten

Ihr Jüngster kam mit bereits vier Wochen in die Familie. Was ist das Besondere daran, wenn ein Kind schon so jung in eine Kinderdorffamilie kommt?

Das ist wie ein eigenes Kind. Er schlief bei uns im Bett und brauchte gerade die ersten Monate eine sehr intensive Betreuung. Wir haben zuvor die ganze Familie gefragt, ob wir ein so kleines Baby bei uns aufnehmen sollen. Es war nicht einfach, da er ein Schreibaby war und auch heute noch viel Zuwendung bedarf. Aber er ist für jeden in unserer Familie ein Gewinn und ist allen sehr ans Herz gewachsen.

Text/Bild: Anne Beyer, Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V

Frau mit Kindern auf der Wiese

Was bringen die Kinder mit, wenn sie hier ankommen?

Das ist sehr unterschiedlich. Sie kommen aus sozial schwachen Familien, oft mit psychischen Erkrankungen, mit einem Alltag mit wenig oder keinen Strukturen. Manche mit Gewalterfahrungen. Man muss Kinder verstehen und darf sie nicht in ein Schema pressen. Zwei Jahre etwa braucht jedes Kind, um hier anzukommen. Diese Zeit ist nötig, damit sie sich an die neuen Regeln gewöhnen, die ihnen einen roten Faden bieten. Sie kennen meist keine Bindungen, Vertrauen und Verbindlichkeiten. Ein Mädchen hatte, als sie hier ankam, große Schwierigkeiten abends einzuschlafen. Sie sagte dann irgendwann zu mir: ,Ich weiß ja nicht, ob du morgen noch da bist.‘ Diese Aussage beschreibt sehr gut, was die Kinder fühlen – ihnen fehlt das Urvertrauen aus der frühesten Kindheit. Sie haben alle eine eigene Persönlichkeit, auf die man anders eingehen muss. Bei acht Kindern, die hier leben, inklusive meiner eigenen, ist das eine große Herausforderung. Mein Leben sind die Kinder. Man bringt sich bei dieser Arbeit sehr persönlich ein.

Wichtig ist auch die Elternarbeit. Bei den Gesprächen erkläre ich den Müttern immer, dass sie die Mutter sind und ich die Kinderdorfmutter – bis auf den Jüngsten haben alle Kontakt zu ihren Eltern. Die Kinder dürfen selbst entscheiden, ob sie mich Mama nennen wollen. Für dieses Wort gehören viele Empfindungen dazu. Aber wenn die eigenen Kinder immer ,Mama, Mama‘ rufen, dann verselbstständigt sich das. Dann muss man mit den Kindern reden, ob sich das für sie wirklich richtig anfühlt.

Was sind die Highlights in den 20 Jahren, an die Sie sich gern erinnern?

Es fällt mir schwer, einzelne Ereignisse zu benennen. Die Geburtstage sind sicherlich immer etwas Besonderes. Jedes Kind darf sich ein Motto wünschen, ich backe einen Wunschkuchen und der Heliumballon darf auch nicht fehlen. Die Kindheit soll die schönste Zeit im Leben sein, und das versuchen wir den Kindern zu ermöglichen.

Auch an unsere Reisen erinnere ich mich immer gern. Wir gehen viel wandern, zum Beispiel in Österreich. Auch an den Wochenenden fahren wir einfach mal in den Wald zum Wandern. Dieses Jahr geht es wieder auf einen Reiterhof in der Oberpfalz. Das ist für die Kinder toll, da sie sich alle dafür begeistern können.

Und als ich 2016 von den Kindern überrascht wurde und einen Auftritt in Bülent Ceylans großer Überraschungsshow hatte, hat mich das sehr gerührt. Gemeinsam mit meinem Mann, den Kindern und RTL wurde heimlich ein kleiner Film gedreht, mit dem ich am nächsten Tag mitten auf dem Potsdamer Platz überrascht wurde. Die Kinder haben eifrig mitgemacht und nichts verraten.

Welche Erfahrungen haben Sie in den 20 Jahren besonders wertgeschätzt? Was hat sich geändert?

Die Einstellung ,Man rettet jetzt sechs Kinder‘ hat man oft am Anfang der Tätigkeit als Erzieherin. Aber vieles dieser Euphorie relativiert man im Laufe der Jahre. Nicht alle Kinder lernen einen Beruf, und nicht alle Erfahrungen, die man macht, haben ein schönes Ende. Man holt jedes Kind dort ab, wo es gerade steht. Trotzdem schlägt mancher in der Pubertät einen Weg ein, den man nicht versteht. Auch wenn man 15 Jahre etwas anderes vorlebt, hat man den Einfluss nicht immer.

Ein Junge, der mit knapp 4 Jahren zu uns kam, kam aus einer sehr vernachlässigten Umgebung. Er konnte lange nicht sprechen und hatte motorische Entwicklungsstörungen. Er hat sich jetzt mit neun Jahren sehr positiv entwickelt. Wir sind seine Familie, und er hat Spaß am Leben. Er wird hier so genommen, wie er ist. Aus solchen Entwicklungen schöpft man sehr viel Kraft.

Man wird über die Jahre auf jeden Fall entspannter. Den Druck rauszunehmen und sich und den Kindern Zeit zu geben, ist sicherlich eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich auch jüngeren KollegInnen gern mitgebe. Sie haben am Anfang sehr viel Druck, die Theorie aus der Ausbildung in die Praxis umzusetzen. Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, wenn man an seine Grenzen gerät und darf nicht in den Zugzwang geraten ,Das muss jetzt aber funktionieren‘.