RÜCKERSDORF – Ein großes Holzhaus mitten im Grünen. Vögel zwitschern, der Wind rauscht in den Baumkronen, laute Popmusik schallt aus dem geöffneten Fenster. Vor dem Anwesen steht ein ausladendes Spielgerät in Form eines Piratenschiffes. Drei Jungs klettern darin herum, vor dem Schiff hocken zwei Mädchen und streicheln einen Labrador, der gutmütig dreinschaut.

Es ist ein idyllisches Bild, das sich dort in Rückersdorf (Kreis Nürnberger Land) bietet. Das Bild bekommt erst Risse, wenn man die Geschichte der Hausbewohner kennt. Im Albert-Schweitzer-Sternstundenhaus leben Kinder, die nicht bei ihren Familien bleiben konnten. Die Gründe dafür sind vielfältig: In der Broschüre des Albert-Schweitzer-Familienwerks sind unter anderem Missbrauch oder Misshandlung der Kinder, Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie psychische Erkrankungen der Eltern aufgeführt.

Über die Einzelschicksale ihrer Schützlinge möchte Hausmutter Claudia Nitz nicht sprechen, um die Kinder, aber auch deren Familien zu schützen. Die meisten kommen aus dem Umland. "Die Familien waren aus verschiedenen Gründen mit den Kindern überfordert", fasst sie die Problematik vorsichtig zusammen.

Ein Kinderheim,
aber kein gewöhnliches

Das Sternstundenhaus ist ein Kinderheim – allerdings kein gewöhnliches: Claudia Nitz lebt mit den neun Kindern und Jugendlichen zusammen. Ihre Wohnung hat sie im obersten Stockwerk des Hauses. Theoretisch arbeitet sie zwar – genau wie ihre fünf Kollegen – in festen Schichten. Praktisch ist sie aber rund um die Uhr für ihre Schützlinge da, wenn Not am Mann ist.

Heute ist Freitag: Aufräumtag im Sternstundenhaus. Jedes Kind ist für sein Zimmer zuständig. Am Ende kontrollieren die Betreuer, ob alles ordentlich ist. "Auf der einen Seite sind wir aus organisatorischen Gründen darauf angewiesen, dass die Kinder ein bisschen mithelfen – trotz der Haushaltshilfe, die das Putzen und Kochen übernimmt", sagt Claudia Nitz. Auf der anderen Seite würden die Kinder auf diese Weise Fertigkeiten erlernen, die sie später gut gebrauchen können.

Die Hausmutter sitzt an einem langen Holztisch in einem hellen, freundlichen Raum. "Hier essen wir morgens, mittags und abends zusammen", erzählt sie. Abwechselnd haben die Kinder Tischdienst, und auch für die Wäsche sind alle mal zuständig. Vom Esstisch aus blickt man aus dem Fenster auf eine voll behangene Wäschespinne.

Die ersten Kinder sind mit dem Aufräumen fertig und verlangen die Aufmerksamkeit ihrer Hausmutter. "Geht doch noch ein bisschen draußen spielen, ich komme gleich", sagt Claudia Nitz zu einem missmutig dreinschauenden Jungen und streicht ihm übers dunkle Haar. Trotz aller Professionalität: "Ich lebe mit diesen Kindern zusammen, erlebe ihren ganzen Alltag. Natürlich gewinne ich sie lieb."

Das Verhältnis zwischen Hausmutter und Kind ist freilich nicht von Anfang an so innig. Wenn die Kinder neu sind, das ist das Schwierigste, weiß Claudia Nitz. "Erstmal muss man ihr Vertrauen gewinnen." Die Wenigsten wollten schließlich überhaupt von ihren Eltern weg. "Unsere Erfahrung ist, dass es Kindern daheim schon sehr schlecht gehen muss, damit sie ins Heim wollen." Und doch gehe die Eingewöhnung jedes Mal überraschend schnell. "Die Kinder helfen sich gegenseitig."

Wenn das Jugendamt ein Kind vermittelt, fragt es bei dem Heim an, das es für das geeignetste hält: "Das sind Erfahrungswerte, die Mitarbeiter kennen die Einrichtungen ja." Voraussetzung ist freilich, dass ein Platz im Heim frei ist. Im nächsten Schritt besucht das Kind mehrmals das Haus und dessen Bewohner. Passt das Kind in die bestehende Gruppe – charakterlich, aber auch, was seine speziellen Bedürfnisse angeht? Erst dann wird gemeinsam entschieden, ob das Sternstundenhaus das Richtige ist.

Ziel ist, die Kinder irgendwann in ihre Familie zurückzuführen. Manche Krisensituationen erledigen sich mit der Zeit. Andere nicht: Das älteste "Kind" im Haus ist 17 Jahre alt und wohnt seit knapp sechs Jahren in Rückersdorf. Demnächst tritt sie eine Ausbildung an und zieht in eine eigene Wohnung. Der Abschied wird nicht einfach sein, aber bei Claudia Nitz überwiegt die Freude. Sie ist stolz auf ihre "Große": "Wenn man sieht, da konnte man jemanden unterstützen, das ist ein tolles Gefühl."

Die Unterstützung besteht nicht nur aus gemeinsamem Essen und Hausaufgabenhilfe. Jeder Betreuer hat zwei Kinder, um die er sich besonders intensiv kümmert. Das "Bezugsbetreuersystem" sorgt dafür, dass kein Kind zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Sportvereine, Musikunterricht, Kunst- und Spieltherapie: Jeder wird individuell gefördert.

Inzwischen schleichen immer mehr Kinder um den Esstisch herum. Sie wollen ihre Hausmutter für sich, zum Spielen, Reden, Kuscheln. Ganz wie mit einer "richtigen" Mutter. "Eigentlich sind wir eine große Patchworkfamilie", sagt sie.

Spendenkontonummer: 149330, BLZ 76061025. Im Sternstundenhaus ist ab März eine Praktikantenstelle frei. Weitere Infos unter 0911/95339888.

Stephanie Siebert
Nürnberger Zeitung 26.9.2008