Wenn Jugendliche mehr Platz brauchen

Jugendliche, die schon fast junge Erwachsene sind, haben andere Interessen und Bedürfnisse als kleine Kinder. Das gilt auch für ihr Zuhause: Ein Jugendzimmer sieht nicht mehr nach Kinderzimmer aus. Seine Bewohner*innen wollen und brauchen manchmal einfach ihre Ruhe – vor den Eltern wie auch jüngeren Geschwistern. Das ist im Kinderdorf nicht anders als in allen Familien. Aber: Wie lässt sich das umsetzen? Im Familienwerk Bayern werden dafür neue Wege gefunden.

Daniel ist mit seinen bald 18 Jahren mit Abstand der älteste Bewohner des Rosenhofes in Rosenheim. Jetzt zieht er in das neue Häuschen zur Verselbstständigung.

Daniel ist mit seinen bald 18 Jahren mit Abstand der älteste Bewohner des Rosenhofes in Rosenheim. Jetzt zieht er in das neue Häuschen zur Verselbstständigung.

Neubeuern bei Rosenheim: Hier stehen das Kerbhaus und der Rosenhof. Die jüngsten der insgesamt 18 Bewohner*innen gehen noch nicht zur Schule, der Älteste, Daniel, wird bald 18 Jahre alt.

„Der Älteste zu sein, ist schon anstrengend“, sagt Daniel. „Die Jüngeren diskutieren viel rum und sind laut. Wenn ich aber lernen muss, ist das nicht so toll.“ Mit drei Jahren war er zusammen mit seinem jüngeren Bruder in eine Pflegefamilie gekommen. Mit zwölf zog er in den Rosenhof. Damals gab es hier noch andere „Große“. Sie gehen inzwischen eigene Wege. Daniel ist jetzt – mit Abstand – der Älteste.

Er wird nun der erste sein, der in das neu gebaute Zuhaus zieht, das Kerbhaus und Rosenhof künftig ergänzt. Ein Häuschen zur Verselbstständigung, in dem die großen Kinderdorfkinder üben können, allein klarzukommen. „Die Wohnung ist schön geworden“, freut sich Daniel. Er erzählt von großen Fenstern und vor allem von viel mehr Platz für sich: „Mein Kinderzimmer passt bestimmt vier Mal da rein.“

„Manchmal besteht Unterstützung auch darin, Hilfen zurückzufahren“

Sozialpädagogin Bianca Specht hat zusammen mit Daniel seine neue Wohnung eingerichtet. „Ich habe schon viele Kinder gehen sehen, die direkt aus dem Kinderhaus in eine eigene Wohnung gezogen sind, in der sie dann allein zurechtkommen mussten“, erzählt sie. „Das, was auf sie zukam, war oft ziemlich weit weg von dem, was sie kannten.“ Denn im Kinderhaus stehe in der Regel die Gruppe im Vordergrund. Die Gemeinschaft, die die einzelnen trägt. Für Jugendliche fehle es dadurch nicht selten an Möglichkeiten, individuelle Fortschritte zu machen, indem sie eigene Entscheidungen treffen und Dinge selbst tun müssen. „Bei so vielen Pädagog*innen im Haus findet sich immer jemand, der den Jugendlichen Aufgaben abnimmt, der für sie mit kocht, sie mit dem Auto dort absetzt, wo sie hinmüssen“, erläutert Specht. „Aber irgendwann sollen sie dann plötzlich ausziehen und alles ganz schnell ohne Unterstützung schaffen.“ Manchmal bestehe die Förderung und Unterstützung junger Menschen eben auch darin, Hilfen wieder zurückzufahren.

Deshalb möchte das Familienwerk den Übergang für die Großen künftig noch bewusster gestalten. „Es braucht einen Zwischenschritt“, sagt Bianca Specht. „Den schaffen wir mit dem Zuhaus. Wenn unsere Kinder aus der Jugendhilfe gehen, verlassen sie nicht eine Familie, sondern ein System. Darauf wollen wir sie gut vorbereiten.“

Das Zuhaus ist ein Pilotprojekt. Zunächst wird nur Daniel einziehen, irgendwann könnten zwei Heranwachsende hier wohnen. Daniel wartet bereits sehnsüchtig auf den Einzug, denn durch die Baumaßnahmen als auch Corona hat sich bereits mehrfach alles verzögert. Der Erste zu sein, der in das Zuhaus zieht, gefällt ihm: „Ich kann vieles mitgestalten. Es gibt noch keine festen Regelungen – die handeln wir erst aus.“

Endlich mehr Unabhängigkeit. Die ist dem 17-Jährigen, der bald auch seinen Führerschein machen möchte, wichtig. Wie wohl den meisten Gleichaltrigen. Dass eine Menge dazugehört, ist ihm bewusst: Putzen (in der großen Wohnung mehr als bisher), kochen, einkaufen, die Freizeit gestalten. Respekt hat er davor. Ganz neu sind die Aufgaben für ihn zwar nicht – im Kinderhaus gibt es einen Wochenplan und alle haben ihre Pflichten –, aber bisher musste er sich eben nicht um alles selbst kümmern. Worauf er sich besonders freut: „Endlich allein ein Bad benutzen.“

Ein Pädagoge, den das Familienwerk für das Verselbstständigungsprojekt einstellt, wird Daniel im Zuhaus zur Seite stehen. Nicht rund um die Uhr, aber zehn Stunden in der Woche. Mit ihm kann der Fachoberschüler, der sich für technisches Zeichnen begeistert, sich austauschen, Fragen und Unsicherheiten besprechen, sich rückversichern.

Bianca Specht kann Daniels neues Domizil von ihrem Bürofenster aus sehen. „Es ist aber wichtig, dass niemand aus dem Kinderhaus Daniel drüben betreut“, findet die Sozialpädagogin. „Das sollte jemand sein, der wirklich nur für ihn da ist.“

„Ich denke, auf Daniel sind gerade mehr Augen gerichtet, als er sich bewusst ist“, sagt Specht. Dazu gehört auch eine 13-Jährige aus dem Kerbhaus. „Für die jüngeren Kinder stellt sich natürlich schnell die Frage, wie es bei ihnen später mal wird. Ob Daniels Weg auch für sie infrage käme. Sie beobachten alles ganz genau“ Weil die Bedürfnisse auch von Teenagern andere sind als die von Grundschulkindern, hat das Kerbhaus kürzlich einen Anbau erhalten. Die Größeren haben hier jetzt ein bisschen mehr Privatsphäre – zumindest, soweit das bei sieben Kindern möglich ist.

In wenigen Jahren will Daniel eigene Wege gehen

Irgendwann gehen zu müssen, das hat Daniel anfangs mit Unsicherheit erfüllt. Doch nach zahlreichen Gesprächen über seine Zukunft mit Bianca Spechts Ehemann Timo, der als Pädagoge eine enge Beziehung zu Daniel aufgebaut hat, fühlt sich der geplante große (Zwischen-)Schritt nun richtig an für ihn.

Daniel würde gern sein Fachabitur machen und das erste Ausbildungsjahr hinter sich bringen, bevor er irgendwann komplett eigene Wege geht und das Familienwerk verlässt. Dann möchte er wieder in der Nähe seines jüngeren Bruders leben, der damals in der Pflegefamilie (zu der Daniel wie auch zu seinem leiblichen Vater noch Kontakt hat) blieb.

Natürlich wird Daniel im Kinderhaus auch weiterhin immer willkommen sein. Und auch wenn er sie gerade noch anstrengend findet: Daniel wird auch die „Kleinen“ vermissen. „Neulich war ich einen Tag im Zuhaus. Es war ziemlich ruhig. Das ist irgendwie auch komisch“, gibt er zu.

Die Frage, ob er sich wirklich gut vorbereitet fühlt, verneint Daniel, wenn auch mit einem Lächeln. Trotzdem: Jetzt möchte er endlich umziehen. Für sich sein. Er wünscht sich, bald umziehen zu können. Genauso, wie es Heranwachsende überall tun, wenn sie langsam erwachsen werden.

Sabrina Banze, Bundesverband