Betreutes Jugendwohnen in Niedersachsen

Wie gelingt Verselbständigung? Diese Frage stellen wir uns im Betreuten Jugendwohnen in Uslar immer wieder. Klar ist: Es reicht nicht aus, wenn junge Menschen lernen, ihre Wohnung sauber zu halten, allein einzukaufen und ihre Wäsche zu waschen. Selbständigkeit ist mehr. Besonders: die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben. Klingt einfach. Ist es aber nicht.

Junge Menschen in der Jugendhilfe erleben sich oft als wenig selbstwirksam. Sie fühlen sich fremdbestimmt durch Jugendämter und Pädagog*innen. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht also darin, ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Dies bedeutet – neben praktischen Dingen wie dem Umgang mit Geld oder der Gestaltung einer Tagesstruktur, die geübt werden – dass wir ihre Wünsche ernst nehmen. Auch dann, wenn wir vielleicht nicht überzeugt sind von ihrem geplanten Weg. Manche Wege müssen gegangen werden – und wir gehen sie gemeinsam mit den Jugendlichen. Die Herausforderung für uns liegt darin, die Balance zu halten zwischen Gewähren Lassen und Eingreifen. Die Jugendlichen sollen eigene Entscheidungen treffen. Sie dürfen Fehler machen, sich irren, hinfallen. Wichtig ist, dass sie lernen wieder aufzustehen und – mit Hilfe – nach neuen Wegen zu suchen.

Wenn es gelingt, sind erstaunliche Entwicklungen möglich. Da gibt es diejenigen, die sich durchkämpfen und den für sie bestmöglichen Schulabschluss erreichen. Andere kommen gerade so durch die Schule, finden dann aber genau die richtige Ausbildung und man erkennt sie kaum wieder, weil sie „ihren“ Platz gefunden haben. Wenn es gelingt… Und damit komme ich zu den Bedingungen. Die wichtigste ist: Zeit. Junge Menschen aus der Jugendhilfe benötigen Unterstützung – wenn sie es wollen – über das 18. Lebensjahr hinaus. Wir brauchen eine gute Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, damit die Hilfe für junge Volljährige auch wirklich bis zum 21. Lebensjahr genutzt werden kann, wie es das Gesetz ermöglicht (§41 SGB VIII). Es muss selbstverständlich sein, dass diejenigen, die Abitur machen wollen, dies tun können, ohne einen Abbruch der Hilfe fürchten zu müssen. Ebenso wichtig ist eine gute Begleitung in einer Ausbildung. Andere wissen vielleicht noch nicht, was sie wollen, sind noch in der Findungsphase. Auch dafür muss Zeit sein – und die Sicherheit der Unterstützung dennoch gegeben.

Was aber passiert, wenn die Jugendhilfe beendet wurde und die jungen Menschen geraten in eine Krise? Das Leben verläuft nicht immer gradlinig, selbst wenn man gut vorbereitet startet. Da kann es Probleme in der Ausbildung geben oder in der Partnerschaft, eine ungewollte Schwangerschaft, eine plötzlich gekündigte Wohnung, finanzielle Schwierigkeiten. Was tun Heranwachsende, wenn sie nicht mehr weiterwissen? Sie wenden sich meist an ihre Eltern, fragen um Rat, bekommen Unterstützung. Diese Möglichkeit haben Jugendhilfe-Kinder nicht. Die „Care Leaver“ sind auf sich allein gestellt.

Genau darum geht es bei vielen Diskussionen zum Thema. Es muss ein Bewusstsein entstehen, dass es eine Verantwortung über die Jugendhilfe hinaus gibt. Bei den Kostenträgern ebenso wie in den Jugendhilfeeinrichtungen. In anderen europäischen Ländern wie Norwegen oder Großbritannien ist dies keine Frage. Wir brauchen ein möglichst unbürokratisches Netzwerk, auf das junge Menschen zurückgreifen können. Es kann nicht alles davon abhängen, ob ehemalige Betreuer*innen sich weiter zuständig fühlen und einspringen und der Staat sich darauf verlässt. Care Leaver sollten in Krisen Unterstützung bekommen. Etwa eine Rückkehroption, wenn sie feststellen, dass sie es doch (noch) nicht allein schaffen. Bedenkt man, dass junge Menschen im Schnitt mit 24 oder 25 Jahren ihr Elternhaus verlassen, sollten wir auch und gerade Care Leavern diese Zeit zur Festigung ihrer Persönlichkeit ermöglichen. Und ihnen Hilfe nicht vorenthalten, wenn sie sie benötigen.

Sabine Böker, Familienwerk Niedersachsen