Cordula Weigel (links) mit einer Besucherin des Familienzentrums.

Es ist Mittwochnachmittag. Im Berliner Familienzentrum „Die Brücke“ vom Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V. herrscht reges Treiben. Kinder wuseln umher, Gelächter und ein Wirrwarr verschiedener Sprachen ist zu hören. Während die interkulturelle Kochgruppe die Reste des arabischen Essens verspeist, strömen immer mehr Gäste ins Zentrum. Um 15 Uhr beginnt das Sprachcafé. Unter den Gästen ist der 37-jährige Saif Roshaan, der das Projekt „Brücken bauen“ seit einem Jahr besucht und sich inzwischen hier auch ehrenamtlich engagiert: „Viele Geflüchtete haben keinen Kontakt zu Deutschen. Es ist schwer, so die Sprache zu lernen und sich in der Gesellschaft zurecht zu finden“, erzählt er. Hier habe er die Möglichkeit mit Menschen in Kontakt zu kommen und über viele Dinge – den Alltag, die Gesellschaft, Familie, unsere Kulturen – zu sprechen. Saif Roshaan kommt aus Afghanistan und lebt seit 3 Jahren in Berlin.

Cordula Weigel hat das Projekt „Brücken bauen“ 2015 ins Leben gerufen und koordiniert die interkulturelle Arbeit im Familienzentrum. Im Interview spricht sie über die Erfolge in der Integration von Geflüchteten und über die Probleme, die sich im Alltag auftun.

Frau Weigel, am 20. Januar ist Welttag der Migranten und Flüchtlinge. Was fällt Ihnen dazu als Erstes ein?

Zunächst einmal, dass weltweit aktuell 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Ich finde das eine unheimlich hohe Zahl. Es macht mich immer noch sehr betroffen, wenn ich sehe, wie syrische Kinder in Lagern dahinvegetieren oder Flüchtlinge im Mittelmeer sterben. In unseren Einrichtungen hören wir oft bewegende Fluchtgeschichten.

2015 haben sie das Projekt „Brücken bauen“ initiiert. Warum?

Mit der großen Fluchtwelle haben wir vom Familienzentrum in einer Erstunterkunft begonnen, Eltern und Kinder zu unterstützen. Wir wollten ihnen unsere regulären Familienangebote zugänglich machen. Uns war aber von Anfang an wichtig, dass es zu einer Begegnung zwischen Einheimischen und den Geflüchteten kommt. So entstand das Projekt „Brücken bauen“, das mit gezielten Angeboten die Begegnung im Familienzentrum fördert.

Was sind das für Angebote?

In einer Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg haben wir ein Familienzimmer eingerichtet. Dort treffen sich Eltern mit kleinen Kindern in Krabbelgruppen oder zum gemeinsamen Musizieren oder kreativ werden. Das ist unser erster Kontakt zu den Familien und ganz wichtig, damit diese sich dann auch trauen, Angebote außerhalb der Unterkunft zu besuchen. Im Familienzentrum direkt bieten wir dann spezielle interkulturelle Begegnungsangebote an, wie gemeinsames Kochen, Tanzen, Musizieren und Feste. Hier geht es immer darum, dass sich Familien aus der Nachbarschaft und eben auch geflüchtete Familien ganz ungezwungen bei Aktivitäten begegnen, die auch ohne Sprache funktionieren. Ziel ist es, das irgendwann nicht mehr wichtig ist, ob eine neue Mama in der Krabbelgruppe nun aus Brandenburg oder Afghanistan kommt. Dafür braucht es dann aber zumindest grundlegende Deutschkenntnisse. Deshalb haben wir vor einem Jahr ein Sprachcafé eingerichtet, wo Deutsch geübt wird. Die Kinder können mitgebracht werden, denn oft ist die fehlende Betreuung ein Grund, warum vor allem die Frauen nicht Deutsch lernen können. Seit einem halben Jahr haben wir auch eine russischsprachige Stadtteilmutter, die gezielt Geflüchtete berät, unterstützt und im Alltag begleitet.

Werden die Angebote angenommen?

Ja, auf jeden Fall. Am stärksten besucht ist unser Sprachcafé – da reisen Menschen sogar aus anderen Bezirken an, um mit uns Deutsch zu lernen. Der Bedarf ist nach wie vor sehr groß. In den regulären Deutschkursen fehlt oft das Alltagsdeutsch. Viele können nach so einem Kurs dann zwar eine Bewerbung schreiben, trauen sich aber nicht, ihre Nachbarn anzusprechen. Dass unsere Angebote so gut angenommen werden, hat aus meiner Sicht vor allem mit der Atmosphäre im Familienzentrum zu tun. Viele sagen, dass sie sich bei uns sehr wohl und wertgeschätzt fühlen.

Was fällt Ihnen auf in Ihrer täglichen Begegnung mit Geflüchteten?

Vor allem, dass viele zunächst sehr überangepasst und vorsichtig sind. Sie wollen bloß nichts Falsches sagen oder tun. Sie begegnen oft dem Anspruch, sich möglichst schnell und geräuschlos zu integrieren. Sie wollen sich „Deutsch“ verhalten – was auch immer das konkret bedeutet. Das ist wahnsinnig anstrengend. Oft merke ich, dass von unseren Besuchern eine Last fällt, wenn sie erleben, dass wir uns für ihre Kultur, für sie als Mensch ehrlich interessieren.

Quo Vadis Integration: Ist sie in Deutschland gelungen?

Ich denke jein. Auf der einen Seite ist in den vergangenen Jahren unheimlich viel passiert, die Unterbringungen haben sich verbessert, es sind großartige Projekte entstanden, viele davon auf Initiative der Zivilgesellschaft. Und ich nehme auch eine größere Unaufgeregtheit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit Geflüchteten wahr. Die fehlt mir leider in manch politischer Diskussion. Ich glaube, wir brauchen auf der einen Seite diese unaufgeregte Art, Probleme einfach anzupacken. Gleichzeitig müssen wir uns aber bewusst sein, dass Integration ein langer Weg ist. Integration ist Arbeit – für beide Seiten, und sie braucht Ressourcen und einen langen Atem. Das muss sich dann auch in einer verlässlichen Finanzierung von Projekten widerspiegeln. Wir finanzieren unser Engagement seit Jahren mit Mitteln aus verschiedenen Töpfen. Da würde ich mir schon mehr Planungssicherheit wünschen.

Wie reagieren die Einheimischen auf Ihre Angebote?

Als wir das Projekt geplant haben, hatten wir schon Bedenken, wie es wohl bei unseren Besuchern ankommt, wenn jetzt viele Geflüchtete unsere Angebote nutzen. Bleiben die dann weg, weil sie sich plötzlich fremd und nicht mehr willkommen fühlen? Zum Glück haben sich diese Ängste nicht bestätigt, auch wenn es schon ein paar Stolpersteine gab. Lichtenberg ist ja nicht unbedingt durch seine Fremdenfreundlichkeit bekannt, aber die meisten unserer Besucher haben mich mit ihrer Offenheit und Hilfsbereitschaft überwältigt. Tatsächlich konnten wir uns zu Beginn vor Kleiderspenden für die Kinder kaum retten. Viele Mütter und Väter, SeniorInnen und StudentInnen haben sich ehrenamtlich bei uns engagiert, Patenschaften für Familien übernommen und mit Einzelnen intensiv Deutsch gelernt. Ich denke, deshalb sind auch solche Angebote in der direkten Nachbarschaft vor Ort so wichtig: In der Theorie werden komplexe gesellschaftliche Probleme oft pauschal abgehandelt. Dann entsteht schnell ein merkwürdig vereinfachtes Bild von DEN Flüchtlingen. Aber wenn man sich persönlich begegnet, dann bekommt das Bild eine neue Perspektive. Wenn wir es schaffen, unterschiedliche Menschen ins Gespräch zu bringen, dann können wir viel bewegen und verändern. Ich habe bei uns die Verwandlung der größten Kritiker zu engagierten Sprachlehrern und Paten miterlebt, einfach weil sie sich als Menschen begegnet sind.

Was sind Ihre nächsten Ziele und Wünsche?

Mein großer Wunsch ist, die Geflüchteten noch mehr in die Gestaltung der Angebote einzubinden. Das gelingt uns schon gut bei Ehrenamtlichen und PraktikantInnen. Aber vielleicht haben wir ja auch irgendwann eine Kollegin oder einen Kollegen mit Fluchthintergrund im Team, das fände ich sehr schön.

„Brücken bauen“ ist ein Projekt der Berliner Familienzentren „Die Brücke“ und „Kikiflo“ in Kooperation mit der Erstaufnahmeeinrichtung AWO-Refugium. Beide Zentren gehören zum Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V.. Hauptziele des Projekts sind die Unterstützung geflüchteter Familien bei der Integration in ihrer neuen Heimat und die Förderung der Begegnung von einheimischen Familien mit Flüchtlingsfamilien. Angeboten werden eine Krabbelgruppe, Interkulturelles Kochen, die Vermittlung von Paten, eine Kreativwerkstatt, Sprachcafé und anderes. 

Das Interview führte Ulrike Seifart, Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke, Januar 2019