Das öffentliche Leben hat zuletzt fast überall stillgestanden. Kindertagesstätten, Schulen und Vereine öffnen sich erst langsam wieder. Vor allem Familien traf und trifft der Lockdown mit voller Wucht. Wir haben mit Dr. Dirk Dammann, dem leitenden Arzt des Albert-Schweitzer-Therapeutikums, unserer Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Niedersachsen, über die Folgen für die Kinder gesprochen.

Herr Dr. Dammann, wie geht die Familie Dammann mit dem Lockdown um?

Zunächst bin ich sehr dankbar, dass wir ziemlich privilegiert leben dürfen. Wir haben viel Platz und leben auf dem Land. Trotzdem tragen auch wir Konflikte aus, weil naturgemäß nicht alle der gleichen Meinung sind. Jeder hat andere Sorgen. Meine Frau hat überraschend viel Arbeit mit Homeoffice, Schul- und ABI-Betreuung. Aber auch ich spüre, wie sehr der Alltag verschoben ist.

Wie erleben Sie Ihre Kinder in der Corona-Krise?

Unsere Kinder sind im wahrsten Sinne des Wortes gut vernetzt. Sie treffen sich aber persönlich nicht oder nur wenig mit ihren Freunden. Wir achten sehr auf Hygieneregeln. Trotzdem unsere Kinder „kaserniert“ leben, haben sie es gut hinbekommen. Dennoch haben auch wir immer wieder Diskussionen innerhalb der Familie. Manche Freunde sehen das Kontaktverbot lockerer und der  vermehrte Medienkonsum belastet die Familie.

Haben Sie Einblicke in andere Familien?

Ja. Und wir beobachten viele Familien mit großer Sorge. Nicht wenige Menschen leben sehr eng miteinander. Die räumliche Enge macht aggressiv und bringt ein hohes Konfliktpotential mit sich. Bereits vor der Pandemie bestehende Belastungen nehmen zu und werden ergänzt durch neue Probleme.  Die Erfahrung zeigt, dass sich einzelne Belastungen nicht einfach addieren sondern sich die Auswirkungen exponentiell auf Kinder und Familien auswirken. Existentielle Ängste der Eltern, vorbestehende Grunderkrankungen oder die Verantwortung um einen pflegebedürftigen Angehörigen. Wegen Kurzarbeit kann vielleicht der lang ersehnte Sommerurlaub nicht stattfinden oder das Geld für die Miete wird knapp. Die durch uns betreuten Patienten und deren Familien zeigen viel Engagement und haben viele Ressourcen. Es liegt aber in der Dosis und der Dauer der Belastungen, die die Akkus irgendwann leer werden lässt. Die Sorgen der Eltern übertragen sich auf die Kinder. Die spüren das – auch ohne dass Erwachsene darüber sprechen.

Wie zeigt sich das bei den Kindern?

Es kommt darauf an, wie alt das Kind ist. Das dreijährige Kind versteht die Situation aus seinem Horizont heraus; es spürt emotionale Veränderungen. Das achtjährige Kind ist hier schon differenzierter unterwegs, kommt aber in aller Regel nicht darauf, dass das veränderte Verhalten der Eltern etwas mit der neuen Umgebungssituation der Eltern zu tun hat. Fast regelhaft sind Kinder in der Altersgruppe dann davon überzeugt, selbst  etwas falsch gemacht zu haben. Schlimmstenfalls entwickelt das Kind Schuldgefühle, die unbedingt genommen werden müssen. Kinder lesen aus unserem nonverbalen Verhalten. Das gesagte macht nur einen kleinen Anteil dessen aus, was wir dem Kind mitteilen: Der Augenaufschlag, die Kürze einer Antwort, Sprechpausen oder die Art und Weise, mit der wir antworten… Ab dem 13. Lebensjahr sind Kinder in der Regel bereits in der Lage, komplexe Zusammenhänge sprachlich und von ihrem Sinn her zu verstehen und sich in Menschen hineinversetzen zu können. Die Handlung im Umgang mit dem Kind tritt in den Hintergrund. Gleichzeitig braucht es noch viele Jahre, bis mit zunehmender Reife und Lebenserfahrung die Eigenverantwortung des Erwachsenen eintritt. Biologisch dauert das mitunter deutlich bis über das 18. Lebensjahr hinaus.

Können Sie Lösungsansätze bei Belastungen und Konflikten anbieten?

Es gibt natürlich keine Bedienungsanleitung. Aber vielleicht hilft eine Faustregel: Je jünger das Kind ist, umso handlungsorientierter sollten Eltern reagieren. Strukturiere Abläufe und vor allem Zuverlässigkeit und die Möglichkeit, das Verhalten der Erwachsenen vorauszusehen, entlasten Kinder deutlich. Zudem sollten wir gut überlegen, welche Probleme wir bereits mit den Kindern besprechen können und welche nicht. Zurückhaltend sollten wir mit allen Themen sein, bei denen wir als Eltern noch sehr unsicher sind und keine einvernehmliche Haltung zwischen den Elternteilen entwickeln konnten. Sind die Kinder etwas älter, erreichen wir sie auf der sprachlichen Ebene. Den 13-Jährigen erreiche ich auf der kognitiven Ebene (das Denken, Verstehen oder Wissen betreffend). Aber auch hier ist zu beachten, dass Kinder gerne dazu neigen, die Verantwortung für die Erwachsenen mit zu übernehmen, was sie gleichermaßen überfordert. Kinder reagieren dann meist mit körperlichen Symptomen wie Bauchweh oder entwickeln andere psychische Auffälligkeiten.

Das ist verständlich. Aber können Sie Beispiele nennen?

Bei kleinen Kindern nicht so viel reden. Nehmen Sie das Kind an die Hand und machen etwas mit ihm. Sagen Sie dem Kind, was Sie von ihm wollen und nicht, was sie nicht wollen. „Sei still“ überfordert die meisten Kinder, da sie keine Ahnung haben, was sie dann tun sollen. Besser: „Bitte hole die Tasche aus der Küche und packe die Klötze hinein.“ Verlässlichkeit signalisieren Sie durch das zuverlässige Einhalten von Absprachen. Achten Sie darauf, dass dies auch im Umfeld ihres Kindes so gelebt wird. Gestalten Sie auch ohne Kindergarten und Schule einen geregelten Tagesablauf mit Aufstehen, Frühstück und Spielezeit und behalten sie gewohnte pädagogische Regeln bei. Zuviel Freiheit (ich kann tun, was ich will) schadet genauso wie zu viel Strenge (Strenge hat mit Konsequenz nichts zu tun).

Geht das noch konkreter?

Mein Tipp: Planen Sie gezielt und improvisieren Sie nicht. Nicht die Menge des Kontaktes zählt, sondern die Verlässlichkeit. Dreijährige nehmen die Umwelt dabei recht unreflektiert als gegeben wahr. Deshalb können sie auch mit Tod und Sterben einfacher umgehen, als wir Erwachsene das tun. Sie werden aber auffällig, wenn die Eltern unentspannt und aufgeregt sind. Gerade wenn Eltern Zeit für sich benötigen, hilft es, den Rhythmus zu halten und vor allem Ideen statt Verbote zu entwickeln: „Du darfst eine halbe Stunde Fernsehen oder jetzt ist Spielezeit“ klingt doch viel besser als „Ich brauche meine Ruhe!“ Das Kind braucht eine Aufgabe. Sprechen Sie positiv: „Geh in dein Zimmer und sortiere die Legos“, versteht ein Dreijähriger viel besser als „Lass das!“ Oder „Sei still!“ Damit sind gerade kleine Kinder regelmäßig überfordert. Gestalten Sie sich selbst Ruhezeiten, von denen das Kind vorab auch weiß. Planen Sie für Ihr Kind zum Beispiel immer von 9 bis 9:30 Uhr eine Spielpause. Die Akzeptanz und Ruhe steigt im Verlauf, weil die Pause immer zur gleichen Zeit stattfindet.

Tipps von Dr. Dirk Dammann für den Umgang mit Konfliktsituationen:

  • Es ist völlig normal, dass Ihr Kind wütend wird, wenn etwas nicht so funktioniert, wie es sich das wünscht, oder wenn Sie ihm Grenzen setzen.
  • Sie dürfen diese Wut ruhig zulassen, sollten aber darauf achten, dass Ihr Kind lernt, seine Aggression und Wut zu steuern und angemessen einzusetzen.
  • Stampft Ihr Kleinkind wütend mit dem Fuß auf den Boden oder rennt es wutentbrannt in sein Zimmer, sollten Sie es gewähren lassen.
  • Schlägt, tritt, beißt oder kneift es jedoch Sie oder andere, ist ein Unterbrechen des Musters zu empfehlen. Bieten Sie Alternativen an.
  • Ein Raumwechsel unterbricht häufig schon ein Verhaltensmuster.
  • Sollten Sie Ihr Kind festhalten müssen, tun sie dies mit viel Wertschätzung und nicht aus Wut und dem Gefühl der Überlegenheit heraus.
  • Sollten krisenhafte Zuspitzungen häufiger vorkommen, holen Sie sich niederschwellig externe Unterstützung. Versuchen Sie das Verhalten Ihres Kindes besser zu verstehen und daraus Lösungen zu entwickeln.

Ansprechpartner Klinik

In einer akuten Krise steht der Bereitschaftsdienst der Fachklinik zur Verfügung: 05531 / 9311-0 Auf dem Anrufbeantworter wird die Nummer des Diensthabenden angesagt. Die Institutsambulanz erreichen Sie unter: 05531 / 9311-600

Zur Person

Dr. Dirk Dammann (53) war zehn Jahre Chefärztlicher Leiter der Kinderkliniken an den Fachkliniken Wangen, bevor er 2017 die Leitung des Albert-Schweitzer-Therapeutikums in Holzminden übernahm. Als Dozent und Gastdozent für fachspezifische Thematiken sowie durch seine Lehrtätigkeiten u.a. an der Universität Osnabrück, der Universität Ulm sowie in Konstanz, verfügt Dr. med. Dirk Dammann über einen umfangreichen Erfahrungsschatz. Dammann hat sich in der Rehabilitation und Behandlung von Schulmeider*innen bereits bundesweit einen Namen gemacht. Der Mediziner ist verheiratet und Vater von vier Kindern im Alter von 13 bis 22 Jahren.

Die Fragen stellte Swenja Luttermann aus dem Albert-Schweitzer-Familienwerk Niedersachsen.