Christina ist im Kinderdorf Berlin groß geworden. Mit 18 Jahren zog sie in eine eigene Wohnung. Wie das für sie war, erzählt die heute 27-Jährige hier.

Hallo Christina, magst du uns kurz etwas zu deiner Geschichte erzählen?

Christina: Gerne. Ich bin mit fünf Jahren zu meiner Kinderdorfmutter gekommen und habe bis zu meinem 18. Lebensjahr dort gelebt. Anfangs habe ich gar nicht beziehungsweise sehr wenig gesprochen. Eigentlich lief die Kommunikation hauptsächlich über Blickkontakt und ein paar wenige Worte.  Innerhalb von einem Jahr fing ich dann an, aufzutauen und mehr zu reden. Nach zwei bis drei Jahren, das weiß ich noch, habe ich dann gefragt, ob ich meine Kinderdorfmutter „Mama“ nennen kann. Ich sagte so etwas wie: „Ich habe keine Mama, und ich würde dich gern so nennen“.

Hintergrund war auch, dass es in der Schule immer wieder Fragen aufwarf, wenn ich statt von Mama von Steffy gesprochen habe. Und dann kam auch bei mir alles wieder hoch. Das war der Durchbruch, dadurch kam dieses familiäre Gefühl viel mehr durch. Nach meinem Auszug hat sich die Beziehung nochmal gefestigt.

Würdest du sagen, der Auszug ist für Kinder aus der Jugendhilfe eine größere Herausforderung als für andere Jugendliche?

Christina: Ja und nein. Zum Beispiel das Thema Krankenversicherung – andere Kinder sind weiter über ihre Eltern versichert, bei mir war das nicht der Fall. Auch dass man über die eigenen Eltern vieles nicht weiß, erschwert es. Darauf sind die Behörden gar nicht vorbereitet. Und auch beim Thema Bafög oder Kindergeld hatte ich oft das Gefühl, mir werden Steine in den Weg gelegt. Mir hat meine Kommunikationsfähigkeit da sicher geholfen, aber ich kenne ein paar Jugendliche, die sich da schwer tun.

Wann kam das erste Mal Gedanke daran auf, dass du mit 18 ausziehen musst?

Christina: So etwa mit 15, 16 Jahren. Ich habe mich gefragt, wie es weitergeht, weil ich ja mit 18 noch mitten im Abitur stecken würde. Ob ich dann während der Prüfungen ausziehen müsste oder welche Möglichkeiten es sonst gäbe. Meine Familie bot mir an, mit dem Jugendamt zu sprechen, um eine Lösung zu finden. Ich dachte damals aber, wenn ich im Kinderdorf bleibe, muss ich mein ganzes Geld – also mein Kindergeld und Bafög – abgeben, dann will ich lieber in meine eigene Wohnung. Im Nachhinein bereue ich das, denn ich habe total unterschätzt, was auf mich zukommt: Miete zahlen, der ganze Briefverkehr mit den Behörden… Ich war auf jeden Fall überfordert.

War es eine große Umstellung für dich, plötzlich allein zu wohnen?

Christina: Ich war schon immer gerne auch mal für mich, zum Lernen oder Zeichnen. Was natürlich schön war: Wenn es mir mal nicht gut ging, war vorher immer jemand da. Daran, das nicht mehr zu haben, musste ich mich erst mal gewöhnen. Nach ein paar Wochen konnte ich es genießen, allein zu sein. Frühstücken, wie ich will, kochen wie ich will, lesen so lange ich will, ins Bett gehen, wann ich will – das ist herrlich.

Das klingt, als ob du den Auszug, den viele als sehr großen Bruch empfinden, gut gemeistert hast. Wie hast du das geschafft?

Christina: Ich sehe das als Einstellungssache. Es hängt davon ab, ob man sich von seiner Vergangenheit einschränken lassen will. Ich kann nur jedem empfehlen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Für mich ging es aber eher um die Frage, was will ich erreichen. Ich denke, innerer Wille und Stärke sind sehr wichtig.

Ich habe mir Hilfe bei einem Verein geholt, der junge Frauen und Mädchen unterstützt und habe meinen Kinderdorf-Papa um Rat gefragt.

Mein Rat an alle anderen Jugendlichen, die vor einer ähnlichen Situation stehen: Besinnt euch auf eure Stärken. Und holt euch Hilfe. Das ist keine Schande. Es gibt viele kostenfreie Hilfen. Und wenn nötig, macht eine Therapie. Das hat mir sehr geholfen.

Was sollte sich gesellschaftlich oder auch politisch ändern?

Christina: Ich würde mir wünschen, dass man einen Betreuer an die Seite gestellt bekommt, der einen einmal die Woche besucht. Sonst ist man, wenn man diese innere Stärke nicht hat, verloren. Ich weiß nicht, wo ich ohne die externe Hilfe heute wäre. Das kann man Kindern, die sowieso schon gestraft sind, ersparen. Ich würde auch dafür plädieren, dass man die Schule abschließen darf, bevor man ausziehen muss.

Interview: Hanna Irabi, Bundesverband