Der Film „Systemsprenger“ konfrontiert die Zuschauer mit Kindern, die immer wieder durchs Raster fallen, in keiner Einrichtung lange bleiben, unangepasst und haltlos sind. Für Falk Fettin, 39, ist die Arbeit mit diesen Kindern Alltag. Seit über zwei Jahren leitet er die intensiv-sozialtherapeutische Wohngruppe „Anker“, in der Kinder einen Ort finden, die durch ihre psychischen Auffälligkeiten in anderen Einrichtungen nicht zurechtgekommen sind und eine besonders intensive Betreuung brauchen. Im Interview berichtet er, wie der Alltag mit den Kindern aussieht und wie die Mitarbeiter*innen der Wohngruppe „Anker“ Kindern und Jugendlichen mit hohen Beeinträchtigungen – insbesondere im sozialen Bereich – zu helfen versuchen.

Herr Fettin, was für Kinder leben in der „Anker“-Wohngruppe?

Fettin: Wir können in unserer Einrichtung 6 Kinder/Jugendliche von 10 bis 16 Jahren aufnehmen. Die Kinder sind aus ihrer Biografie heraus – aus unterschiedlichsten Gründen – in ihrer (vor allem) emotionalen und sozialen Entwicklung stark beeinträchtigt. Das bedeutet u.a., dass die Kinder/Jugendlichen deutliche und umfassende Beeinträchtigungen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie meist auch zu Erwachsenen zeigen. Vor ihrer Aufnahme in die Wohngruppe „Anker“ haben die Kinder/Jugendlichen meist schon mehrere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe durchlebt.

Was haben diese Kinder erlebt?

Fettin: Meist waren die Kinder und Jugendlichen mit sehr ungünstigen psychosozialen Einflussfaktoren konfrontiert. Unsere Erfahrungen mit den Ursachen für die stark abweichenden Verhaltensweisen der Kinder/Jugendlichen liegen beispielsweise in emotionaler Vernachlässigung, dem Miterleben elterlicher Streitigkeiten sowie einem Gewalt androhenden oder Gewalt anwendenden Erziehungsstil. Ebenso wurden ablehnendes oder inkonsistentes (unstimmiges, widersprüchliches, unbeständiges) Erziehungsverhalten der Eltern beschrieben, das Fehlen von Wärme, Akzeptanz und emotionaler Unterstützung und/oder auch die fehlende Vermittlung von adäquatem Umgang mit Alltagsbelastungen sowie die fehlende Vermittlung eindeutiger Regeln.

Das ist ein wichtiger Punkt. Ich wollte Sie gerade fragen, was das Besondere an der Anker-Wohngruppe ist. Warum lernen viele Kinder, die vorher sehr unangepasst waren, hier mit der Zeit, sich besser zu regulieren?

Fettin: Ich denke, eine große Rolle spielt, dass es sich hier um eine recht kleine Gruppe handelt, was für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe sehr ungewöhnlich ist. Auch der hohe Personalschlüssel, dass immer mindestens zwei Erzieher als Ansprechpartner da sind, tut den Kindern gut.

Für Menschen, die keine Erfahrungen in diesem Bereich gemacht haben, ist das schwer vorstellbar. Vielleicht können Sie einmal schildern, wie diese Kinder sich im Alltag verhalten?

Fettin: Sie sind oft sehr leicht reizbar, es braucht für sie oft nur einen kleinen Anstoß, um „aus der Haut zu fahren“. Dabei zeigen sie rasch ein sehr grenzverletzendes Verhalten – lautes Schimpfen, Beleidigen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Aber auch verletzendes Verhalten gegen sich selbst ist eine Reaktion, die die Kinder/Jugendlichen zeigen. Natürlich bestimmen diese Verhaltensweisen nicht den gesamten Tagesablauf – es gibt viele Stunden, Situationen, Erlebnisse, die von viel Freude, Spaß und einem positiven sozialen Miteinander geprägt sind.

Sie sagten eben, dass die Kinder ganz schwer einzuschätzen sind. Wie lernt man damit dann umzugehen?

Fettin: Das Wichtigste ist, ein Gespür für die Kinder zu haben. Außerdem lernt man sich mit der Zeit kennen und kann besser einschätzen, wann es zu schwierigen Situationen kommen könnte. Wir stellen die Beziehungsarbeit in den Fokus. Vertrauensaufbau und wertschätzende Begleitung sind dabei die wichtigsten Säulen im Alltag. Durch den hohen Personaleinsatz können Beziehungskontinuität, Verlässlichkeit und Sicherheit gewährleistet werden. Förderlich und hilfreich für alle Beteiligten sind ebenso klar strukturierte/geregelte Alltagsabläufe sowie kontinuierliche Reflexionen der pädagogischen Arbeit insbesondere die Nach – und Aufarbeitung von Konfliktsituationen innerhalb des gesamten Teams.  Eine weitere Besonderheit in unserer Einrichtung ist der „Auszeitraum“ – ein verletzungsarmer Raum für Situationen, die eine hohe Fremd- bzw. Selbstgefährdung aufweisen.  Dieser bietet für die Kinder/Jugendlichen die Möglichkeit, sich von belastenden Dingen oder Situationen – immer in Begleitung von pädagogischen und/oder psychologischen Fachkräften – zu distanzieren, bzw. die Auseinandersetzung mit einem Problem zielgerichtet aufzulösen.

Ich beschäftige mich und spreche viel intensiver mit dem Kind, weil ich auch einfach mehr Zeit habe. Ich nehme mich der Probleme an und wir können kann gemeinsam Lösungsstrategien erarbeiten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Wieviel Kontakt haben die Kinder denn zu ihrer Herkunftsfamilie?

Fettin: Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie die Kontaktgestaltungen mit allen Beteiligten (Herkunftsfamilie, Kind, Jugendamt, Einrichtung) abgesprochen wurden.   Telefonische Kontakte haben die Kinder und Jugendlichen meist wöchentlich zu ihren Herkunftsfamilien. Zudem fahren einige Kinder/ Jugendlichen ein- bis zweimal monatlich über ein bis zwei Tage am Wochenende nach Hause und/oder auch zeitweise in den Ferien. Es gibt jedoch auch Kinder, Jugendliche, die zunächst bzw. auf längere Zeit nicht in eine sogenannte Beurlaubung nach Hause fahren können. Gründe hierfür können sein, dass die Herkunftsfamilie sich (noch) nicht in der Lage sieht, ihr Kind zu betreuen – auch wenn es „nur“ über ein Wochenende ist oder wenn eine Beurlaubung für eine positive Entwicklung des Kindes/ Jugendlichen nicht als förderlich eingeschätzt werden kann.

Und trotzdem wollen sie zu ihrer Familie?

Fettin: Ja. Wir erleben immer wieder, dass zwischen Kind und Eltern ein „starkes Band“ besteht – egal, was Kinder/Jugendliche/Eltern in der Vergangenheit gemeinsam erlebt haben.

Das heißt, die Erzieher werden nicht als Ersatz-Eltern angesehen?

Fettin: Nein, das ist nicht unser Auftrag. Biologische Elternschaft ist nicht auszuschalten und nicht zu ersetzen. Eine Familie ersetzen können wir nicht und beabsichtigen wir auch nicht.

Wie harmonisch ist das Verhältnis der Kinder untereinander?

Fettin: Wenn wir davon ausgehen, dass die Gruppe aus sechs verschiedenen Persönlichkeiten – mit ganz unterschiedlichen Charakteren und sehr unterschiedlichen Erfahrungen besteht, kann man von einer Gemeinschaft mit Individualisten sprechen, die einen ganz persönlichen Lebensstil entwickelt haben.  Dennoch schaffen wir es immer wieder, ein Gruppengefühl bei den Kindern/Jugendlichen zu entwickeln – ein Miteinander, in dem gelacht, gestritten, verziehen und gemeinsam Probleme gelöst werden können.

Was heißt Individualisten?

Fettin: Das heißt, dass die Kinder/Jugendlichen eine ausgeprägte Eigenart und u.a. Fähigkeiten entwickelt haben, die sie meist nicht zugunsten der Gemeinschaft entfalten. Dies akzeptieren wir und führen die Kinder/Jugendlichen schrittweise an Meinungsbildungen und Entscheidungen, die ein soziales Miteinander fördern. Wir wissen, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, und versuchen mit Empathie, Geduld und authentischer und emotionaler Verbundenheit Persönlichkeitseigenschaften bei den Kindern/Jugendlichen zu fördern, die ein Leben in der Gemeinschaft positiv prägen.

Was ist das Ziel, was hoffen Sie den Kindern zu vermitteln?

Fettin: Wir wollen eine tragfähige, belastbare und vertrauensvolle Beziehung zu jedem einzelnen schaffen. Wir hoffen, mit den Kindern/Jugendlichen Handlungsstrategien und Perspektiven erarbeiten zu können, um die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben positiv zu beeinflussen und wir möchten die Kinder/Jugendlichen in ihrem Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein stärken. Wir wollen den jungen Menschen einen Ort und die nötige Zeit geben, wo sie ihren „Anker“ werfen und sich die aktuellen Lebenswogen glätten können. Wo sie lernen können ihr „Lebensschiff“ seetauglich zu machen, damit sie ihr Leben stark und eigenbestimmt meistern können.

Zur Person

Falk Fettin, 39 Jahre, ist seit Juli 2017 Einrichtungsleitung in der Sunshinehouse gGmbH in der Wohngruppe „Anker“.

Interview: Hanna Irabi, Bundesverband, Fotos: Symbolbild, pixarbay