Rita Bohn

Seit über zehn Jahren arbeitet Rita Bohn als Kinderdorfmutter. Im Interview erzählt sie, wie wichtig der Kontakt der Kinder zu ihrer Herkunftsfamilie ist, wieviel Fingerspitzengefühl die Umsetzung im Alltag oft braucht und welche Rolle die Großeltern spielen können.

Frau Bohn, wie wichtig ist eine beständige Bezugsperson für die Kinder?
Lassen Sie mich dazu eine kurze Geschichte erzählen. Eines meiner Kinder, ein achtjähriger Junge*, war bevor er zu uns kam, in verschiedenen Pflegeeinrichtungen und in Not-Aufnahmestellen untergebracht. Dadurch war nie eine stabile Bezugsperson oder ein Gefühl von Zuhause da. Ich bin die einzige Person, die er in den zwei Jahren, die er jetzt hier lebt, längere Zeit am Stück erlebt hat. Andere Erzieher und Verwandte hat er nie länger als 24 Stunden am Stück erlebt. Er war in einem Heim untergebracht, da kam jeden Tag ein anderer Erzieher. Bis er begriffen hat, das immer ich hier schlafe, das hat ganz lange gedauert. Dadurch hat er zu mir eine besondere Bindung aufgebaut. Wir haben ihn jetzt innerhalb von diesen zwei Jahren, die er bei uns ist, so in unseren Familienverbund integriert das er weiß, hier gehört er hin. Das ist eine ganz schwierige Aufgabe bei diesem Kind gewesen.

Hat der Junge heute Kontakt zu seiner Familie?
Ja, zu seiner Mutter war der Kontakt schon immer schwierig, wir haben aber bald mitgekriegt, dass es eine Oma gibt, zu der immer Kontakt da war. Seit etwas über einem Jahr haben wir es geschafft, einen regelmäßigeren Kontakt zur Oma herzustellen. Sie war auch bei wichtigen Ereignissen, wie zum Beispiel seiner Einschulung dabei. Mittlerweile war der Junge sogar schon zweimal mit ihr im Urlaub.

Wie sieht der Kontakt zur leiblichen Familie bei den anderen Kindern aus?
Ein anderer Junge, heute neun, war vier Jahre alt, als wir ihn aufgenommen haben. Nach wenigen Wochen kam ein Antrag auf Umgang von seiner leiblichen Mutter. Zu dem Zeitpunkt konnte der Junge noch kein Wort sprechen. Wir waren so froh, als er endlich erste Wörter gesprochen hat, dass es auch ok war, als er Mama und Papa zu uns sagte. Eigentlich lassen wir uns so nicht so gerne ansprechen, aber in diesem Fall waren wir über jedes Wort froh. Um den Jungen auf den Besuch seiner Mutter vorzubereiten, habe ich ihm ein Foto von ihr gezeigt. Als er das Foto seiner Mutter gesehen hat, und ich ihn frage, wer das ist, sagt er: „Eine Mutter“. Ich sage, wie, „Eine Mutter? Deine Mutter. Und wer bin ich?“ Da schaut er mich an und sagt „Mama“. Das werde ich nie vergessen. Ich habe so eine Gänsehaut bekommen. Leider ist der Kontakt zur Mutter bald wieder abgebrochen.

Das heißt, er hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie?
Doch, er hat eine Oma, zu der ein sehr inniges Verhältnis besteht. Sie hat ihn regelmäßig besucht, dann hat er das erste Mal Urlaub bei ihr gemacht. Als ich ihn aus den Ferien bei Oma abgeholt habe, ist mir gleich etwas an hm aufgefallen, ich habe selten so strahlende Augen gesehen.
Das sind aber nur Beispiele. Genauso oft spielen auch die Eltern oder andere Familienmitglieder eine Rolle. Wichtig ist eigentlich nur, dass es Familie ist und dass ein beständiger Kontakt besteht.

Warum ist das so wichtig beziehungsweise was macht es mit den Kindern, wenn das Recht auf eine beständige Bezugsperson verletzt wird?
Vielen fällt es durch diese Erfahrungen schwer, einen beständigen Freundeskontakt aufzubauen. Diese Geschichten wiederholen sich. Die Eltern haben oft ähnliche Erfahrungen gemacht. Das sitzt sehr tief. Ich habe vorher in einer Mutter-Kind-Einrichtung gearbeitet, dort schrieb der Arzt bei fast jedem Patienten „Bindungsstörung“ auf. Und ich dachte, es können doch nicht alle eine Bindungsstörung haben. Durch meine Arbeit weiß ich jetzt was das bedeutet und woher es kommt. Auch vielen der Kinder die ich hier kennengelernt habe, fällt es schwer, eine verlässliche Beziehung aufzubauen.

Warum ist der Kontakt zur leiblichen Familie so wichtig für die Kinder?
Die Kinder sind maximal bis zum 18. Lebensjahr bei uns. Wer will, kann uns danach gerne noch besuchen, aber wenn dort Familie ist, ist das auch sehr viel wert. Jedes Kind und jeder Heranwachsende braucht einen Ansprechpartner im Alltag. Gerade wenn es an den Auszug gehen und die Kinder, die vorher bei uns im Familienverbund lebten, plötzlich auf eigenen Füßen stehen müssen. Das Recht der Kinder auf die Herkunftsfamilie ermöglichen. Das ist die Hauptaufgabe. Da sehe ich auch unser größtes Arbeitsgebiet. Das ist im Alltag sehr präsent.

Das Interview führte Hanna Irabi, Öffentlichkeitsarbeit Bundesverband Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke