„Jeden Abend üben wir es aufs Neue: Zähneputzen, Pippi machen, ab ins Bett“. Christine Sarnow, rote Haare, nachdenklicher Blick aus blauen Augen, seit vielen Jahren Kinderdorfmutter im niedersächsischen Alt Garge, beschreibt den Alltag mit einem ihrer Schützlinge. Jannis* hat das Fetale Alkoholsyndrom. Sarnow hat drei Kinder mit dieser Diagnose vom Jugendamt vermittelt bekommen. Das ist nicht die Regel, denn oft erkennen selbst Expert*innen die Krankheit nicht. FAS bleibt häufig unentdeckt, die Kinder leben, teilweise noch als Erwachsene, mit falschen Diagnosen.

„Sie sind einfach anders als die anderen“, versucht Christine Sarnow zu erklären, wenn es darum geht, wie der Alltag mit den Kindern aussieht. Anders sein, das bedeutet, dass die Kinder eine Tätigkeit 100-mal machen, um dann plötzlich nicht mehr zu wissen, wie es geht. Das beginnt schon bei einfachsten Alltagstätigkeiten. „Ich sage, du gehst jetzt hoch, holst deinen Ranzen und kommst wieder runter. Dann geht mein Kleiner hoch, und oben fällt ihm dann ein, dass er nicht mehr weiß, was er gerade machen wollte oder er fängt einfach an, in seinem Zimmer etwas zu spielen“, erklärt Sarnow.

Die Kinder vergessen von einem auf den anderen Tag

Anders sein, das bedeutet auch, dass die Kinder oft Ein- und Durchschlafprobleme haben, weil ihr Körper nicht in der Lage ist, selbst Melatonin zu produzieren. Es bedeutet, dass die Kinder normale Sätze oft nicht verstehen, so dass die Kinderdorfmutter lernen musste, in möglichst einfachen Worten mit ihnen zu sprechen. Man muss es erlebt haben, um es nachvollziehen zu können“, sagt Christine Sarnow. Auch sie sei im Alltag immer noch oft überrascht, „es ist wie ein Überraschungs-Ei“.

Auf den ersten Blick sieht man den Kindern ihre Einschränkung wenn überhaupt nur im Kleinkindalter an: Weit auseinanderstehende Augen, eine Lücke zwischen den Zehen, ein kleiner Gaumen sind typische Merkmale von Kindern, die unter FAS leiden. Diese verwachsen sich aber mit der Zeit, so dass die Krankheit optisch nur noch schwer erkennbar ist. Sarnow möchte aufklären, denn noch immer werden viele FAS-Kinder nicht entdeckt, leben bis ins Erwachsenenalter ohne zu wissen, was mit ihnen los ist. Eltern verzweifeln an der Erziehung, weil sie nicht wissen, was mit ihren Kindern ist und ihnen nicht helfen können.

Nicht nur für die Angehörigen, auch für die Betroffenen ist es nicht leicht, mit der Situation umzugehen. Sie merken, dass sie anders als andere sind. Dieses Gefühl nagt an ihnen, verunsichert, begleitet sie durch den Alltag. Kinderdorfmutter Sarnow: „Ich finde Worte, um mit ihnen über die Situation zu sprechen. Wenn sie größer sind, erkläre ich ihnen auch ihr Krankheitsbild.“ Das sei oft eine Erleichterung für die Kinder. Sarnow ist überzeugt, dass es ihnen leichter fällt, mit ihrem anders sein umzugehen, wenn sie wissen, was los ist. Außerdem sei die Diagnose wichtig, um ihnen zu helfen, sich bestmöglich zu entwickeln.

Oft brauchen FAS-Kinder umfangreiche Therapien und selbst dann können viele von ihnen als Erwachsene nicht selbstständig leben. „Leider gibt es bis jetzt viel zu wenige Möglichkeiten für die Betreuung von Erwachsenen mit FAS“, weiß Sarnow, die auch Kontakt zu einem ehemaligen Kinderdorfkind mit FAS hält und weiß, wie schwer dieser jungen Frau die Bewältigung des Alltags fällt.

Krankheit selbst unter Fachleuten teilweise nicht bekannt

Als große Herausforderung empfindet Sarnow, dass Hilfsnetze sich erst in den letzten Jahren langsam bilden und auch die Professionen – Gynäkolog*innen oder Kinderärzt*innen etwa – nicht alle mit dem Thema vertraut sind. „Auch ich habe in meiner pädagogischen Berufserfahrung vorher nie Berührungspunkte damit gehabt, es wird einfach zu wenig gelehrt“, sagt Sarnow.

Dass das Wissen um FAS so wenig bekannt ist, führt auch zu einem anderen Problem: Offizielle Statistiken gehen davon aus, dass in Deutschland jede fünfte Schwangere Alkohol konsumiert, vor allem Frauen aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten. „Es ist nicht allen klar, dass auch wenig Alkohol schon zu viel sein kann“, sagt Christine Sarnow. Die Mütter müssen keine Trinkerinnen sein, auch ein Glas zum falschen Zeitpunkt kann die Kinder lebenslang begleiten.

9. September: Tag des alkoholgeschädigten Kindes

Seit 20 Jahren findet jährlich am 9. September weltweit der Internationale FASD Awareness Day statt. Anlässlich dieses Tages weisen die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf die Gesundheitsrisiken von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft hin.

Häufigste Ursache einer angeborenen Behinderung

Offizielle Statistiken gehen davon aus, dass in Deutschland jährlich zwischen 2.000 und 4.000 Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) zur Welt kommen, ca. 10.000 weitere mit geringfügigeren Einschränkungen (Fetale Alkoholspektrumstörungen, kurz: FASD). Es ist die häufigste Ursache einer angeborenen Behinderung in der westlichen Welt – und gekennzeichnet durch körperliche und geistige Schäden, Fehlbildungen und Mangelentwicklung. Denn Alkohol ist ein Zellteilungsgift: Gelangt er über die Plazenta unmittelbar in den Blutkreislauf des ungeborenen Kindes, wirkt er schädigend auf den sich bildenden Organismus ein. Die Entwicklung der inneren Organe, insbesondere des Gehirns und des Nervensystems, wird gestört – mit fatalen Folgen.

Fehldiagnosen und schwierige Versorgung

Während die Versorgung von Kindern und Jugendlichen langsam besser wird, ist die von Erwachsenen weiterhin katastrophal. Zum einen kann FAS im Erwachsenenalter nur noch sehr schwer diagnostiziert werden, häufig entstehen Fehldiagnosen, weil FASD mit der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung verwechselt wird. Erwachsene mit FASD leben daher oft falsch diagnostiziert und behandelt in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Justizvollzugsanstalten oder in der Obdachlosigkeit.

Alkoholbedingte Schäden, die ein Kind einmal im Mutterleib erlitten hat, sind nicht heilbar.

Hanna Irabi und Sabrina Banze, Bundesverband

*Name zum Schutz der Person geändert

Melissa ist 18 geworden

Kinderdorfmutter Christine Sarnow