Lesen und Schreiben hat sie spät gelernt. Nun hat Selvije Izlamay aus dem Jugendwohnen des Albert-Schweitzer-Kinderdorfs Uslar eine Kurzgeschichte über ihre bewegte Vergangenheit geschrieben. Ihr Text ist sogar in einem Buch erschienen.

Hätte man Selvije Izlamay vor ein paar Jahren gefragt, sie hätte ihre eigene Geschichte nicht geglaubt. Völlig hilflos landete sie im Alter von drei Jahren mit ihren Großeltern in Deutschland – in dem Glauben, sie seien ihre Eltern. Bei Selvijes Geburt war ihre Mutter erst 15 Jahre alt gewesen, bis zum Tod des Großvaters hielt Selvije sie für ihre „große Schwester“. Der Tod des Großvaters und die Überforderung der Großmutter mit der Situation brachten schließlich die Wahrheit ans Licht. Selvije musste daraufhin zu ihrer leiblichen Mutter ziehen. Mit diesem Umstand waren jedoch alle überfordert – und so kam es schließlich zur Aufnahme im Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Uslar.

Heute erschwert der mittlerweile 32-Jährigen auch noch eine chronische Erkrankung das Leben. Ihre Geschichte hat sie für den Wettbewerb „b.bobs 59 – Literaturwettbewerb für Menschen mit Behinderung“ aufgeschrieben – und es mit ihrem Beitrag „Das Rad des Lebens“ in das zugehörige Buch „Es hört sich an wie eine Melodie“ des Geest-Verlags geschafft.

Ein holpriger Start

Als kleines Mädchen kommt Selvije Izlamay im Jahr 1989 mit ihrer Familie aus dem Kosovo nach Deutschland. Es folgt die Unterbringung in einem Asylbewerberheim in Bayern und ein kleines Martyrium mit dem System. Denn in den für viele so selbstverständlichen Kindergarten kann Selvije nicht gehen. Sie gehört zu dem geringen Prozentsatz Menschen mit Kleinwüchsigkeit. Im Kindergarten hat man gleich eine ganze Handvoll Bedenken, ihre Größe betreffend. Viele davon aus vermeintlicher Sorge, sie könne Verletzungen davontragen.

Ähnlich sind später auch die Gründe für ihre verzögerte Einschulung. Selvije lernt in kleinen Klassengruppen an einer speziellen Förderschule die grundlegenden Dinge wie Rechnen, Lesen, Schreiben. Leicht fällt es ihr allerdings nicht. Später – im beinah rebellischen Jugendalter – sind ihr die Lerninhalte aus der Schule einfach nicht mehr wichtig.

Selvije lernt spät, ihren Blick nach vorn zu richten

Heute, mit 32 Jahren, ist Selvije nicht sonderlich stolz auf diese Phase. Aber sie kennt auch die Schattenseiten ihres Lebens, weiß noch immer zu genau, was sie in vielen dunklen Stunden durchstehen musste.

Die Aufmerksamkeit und Förderung, die sie eigentlich benötigt, fordert Selvije in ihrer Schulzeit nicht ein. Mit sehr geringen Lese-, Schreib- und Rechenkenntnissen „mogelt“ sie sich viele Jahre mehr oder weniger durch. „Es ging alles sehr, sehr langsam und manchmal, da wollten die einzelnen Buchstaben einfach kein Wort ergeben oder ich verstand schlicht den Sinn nicht“, erinnert sich Selvije an die Momente zurück, in denen sie selbst mal etwas lesen musste. Als erwachsener Mensch nicht lesen, schreiben oder rechnen zu können, ist nicht leicht. Doch Selvije ist gut vernetzt: Freunde lesen ihr ihre Post vor. Und nehmen sie als Mensch vor allem immer so, wie sie ist.

Nach der Schulzeit rückt all dies ohnehin in den Hintergrund. Als Kosovoalbanerin besitzt Selvije nur eine Duldung in dem Land, in dem sie groß geworden ist. Das bedeutet: Sie bekommt keine Arbeitserlaubnis. In dieser schwierigen Zeit wird bei ihr eine Muskelerkrankung diagnostiziert. Das wirft die junge Frau komplett aus der Bahn, denn schnell steht fest: Diese Krankheit wird fortan ihr ganzes Leben mitbestimmen.

Mit Hilfe eines Anwalts gelingt es zumindest, einen gesicherten Aufenthalt für Selvije und damit auch eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Bei den Harz-Weser-Werkstätten in Dassel findet sie 2009 eine Anstellung. Schreiben, lesen und rechnen muss sie dort nicht; die Anleitungen für ihre Aufgaben sind praktisch. Selvije hat also wieder ein geregeltes Leben, aber weiterhin keinen Grund, über ihre nicht vollendete Schulbildung nachzudenken.

„Da war plötzlich eine große Verantwortung“

Erst im Jahr 2018 soll sich das ändern: An ihrem Arbeitsplatz stehen die Wahlen für den Werkstatt-Rat (eine Art Betriebsrat) an. Selvijes Chef fragt sie, ob sie sich nicht für die Wahlen aufstellen lassen will. Die Herausforderung reizt die 32-Jährige. Und nach der Wahl steht nicht nur fest, dass sie dem Rat künftig angehören wird, sie wird zudem noch zur Vorsitzenden berufen. „Da war plötzlich eine große Verantwortung“, erzählt die junge Frau und gesteht sich erstmals ein, wie wichtig Lesen und Schreiben doch sind. Und noch etwas wird ihr bewusst: Dass die Systeme um sie herum die ganze Zeit über wunderbar funktioniert haben. „Ich musste mir die Frage, ob ich vielleicht noch viel mehr kann, bis dato einfach nicht stellen“, sagt sie.

Doch nun muss sie Protokolle erfassen, PC-Arbeiten erledigen, Verantwortung tragen. „Das Problem kam plötzlich, doch nun war es da. Und ich wollte es unbedingt lösen“, beschreibt Selvije Izlamay ihren Antrieb, mit 32 Jahren – fest im Berufsleben stehend und lange nachdem sie letztmalig die Schulbank gedrückt hat – Nachhilfe in Anspruch zu nehmen. Wolfram Schröter, langjähriger Nachhilfelehrer des Albert-Schweitzer-Kinderdorfes und noch immer mit dem Jugendwohnen verbunden, vermittelt Selvije geduldig und respektvoll in vielen Einzelstunden neues und vertiefendes Wissen. Begierig fängt Selvije an, ihre ersten Bücher zu lesen und immer mehr Worte selbst zu schreiben. Und plötzlich fasziniert es sie.

Zweimal die Woche holt sie den verpassten Schulstoff nach. Noch funktionieren Lese-, Schreib- und Rechenprozesse langsam. Aber Selvije merkt: Es geht immer besser. Sie beginnt, Gedanken, Gefühle und Erlebnisse niederzuschreiben und merkt dabei, wie gut ihr diese Art des Verarbeitens tut.

Beinahe beiläufig erzählt sie ihrer Betreuerin im Jugendwohnen von der neu entdeckten Leidenschaft für das Schreiben. Diese ist beeindruckt und fragt, ob sie ihren Text einmal lesen dürfe. Sie darf. „Ich war wahnsinnig fasziniert“, resümiert Sabine Böker, die das Jugendwohnen im Albert-Schweitzer-Kinderdorf Uslar leitet und Selvije persönlich betreut. „Nach zwölf Jahren zu erleben, dass Selvije kommt und sagt: Ich hab da was, das mir Spaß macht, und das ist Schreiben – das war kaum in Worte zu fassen und bleibt für mich überwältigend.“ Sabine Böker schreibt in ihrer Freizeit selbst und stöbert immer mal wieder nach Schreibwettbewerben. So stößt sie genau im richtigen Moment auf den „b.bobs 59“ – den Literaturwettbewerb für Menschen mit Behinderung des Geest-Verlages.

Etwas irritiert ist Selvije schon, als Sabine Böker ihr vorschlägt, ihren Text einzureichen. Schließlich hat sie gerade erst einen sichereren Umgang mit Worten gelernt. Doch sie wirft ihre Skepsis über Bord – und wird belohnt: Für einen der ersten Plätze reicht es zwar nicht, doch gemeinsam mit den Gewinnertexten und einigen ausgewählten Beiträgen anderer Teilnehmer*innen wird ihre Geschichte „Das Rad des Lebens“ in dem Buch „Es hört sich an wie eine Melodie“ veröffentlicht. „Diese Geschichte sagt schon alles über mich aus. Und es gibt sicher noch viele Leute, denen es genauso geht wie mir. Denen möchte ich mit auf den Weg geben, wie gut das Aufschreiben tut und wie sehr es hilft“, sagt die junge Autorin. Und fügt lächelnd hinzu: „Leute, es lohnt sich!“

Swenja Luttermann, Albert-Schweitzer-Familienwerk Niedersachsen