Volljährig = Erwachsen?

Viele Menschen kennen den Begriff „Care Leaver“ nicht. Das gilt oft sogar für die jungen Leute, die er beschreibt. Hier erklären wir deshalb, was der Begriff eigentlich bedeutet. Außerdem beleuchten wir, was sich mit dem 18. Geburtstag für Jugendliche ändert, die im Kinderdorf groß werden. Wir werfen einen Blick ins Gesetz und auf die Statistik und erklären, weshalb die Heranwachsenden, die noch im Kinderdorf wohnen bleiben dürfen, ihr Ausbildungsgehalt oder ihren Ferienjoblohn zu einem großen Teil an das Jugendamt abgeben müssen.

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Begrifflichkeiten: Was steckt dahinter?

Care Leaver

Care Leaver sind junge Menschen, die die Fürsorge durch stationäre Jugendhilfe verlassen. Sie sind in Kinderdörfern, Heimen oder anderen betreuten Wohnformen wie Pflegefamilien oder Wohngruppen ganz oder teilweise aufgewachsen und haben häufig keinen oder einen konfliktbeladenen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie. Ab einem gewissen Alter, meist mit dem 18. Geburtstag, endet die Unterstützung durch die Jugendhilfe und der Weg in die Selbstständigkeit beginnt. Der Begriff Care Leaver umfasst auch Jugendliche und junge Erwachsene, die das Hilfesetting bereits verlassen haben und ohne Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe leben.

Erwachsen sein

Als erwachsen werden Menschen nach Abschluss der Adoleszenz bezeichnet. Biologisches Synonym ist adult und bezieht sich auf die Geschlechtsreife. Allgemein geht man davon aus, dass der Erwachsene jene notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse erworben hat, die ihn befähigen, die für sein Leben und Fortkommen notwendigen Entscheidungen selbständig und eigenverantwortlich zu treffen.

Erwachsen sein im rechtlichen Sinn

Erwachsene bekommen im Vergleich mit Jugendlichen sowohl mehr Rechte als auch Verantwortung. Bei ihrem Alter wird generell angenommen, dass sie für sich selbst sorgen können. (…)
Entgegen landläufiger Meinung wird man in Deutschland jedoch nicht automatisch mit dem Erreichen der sogenannten Volljährigkeit erwachsen. Zwar tritt mit Vollendung des 18. Lebensjahres das wichtigste Zeichen der Entwicklung des Menschen zum Erwachsenen ein, nämlich die volle Geschäftsfähigkeit, sowie einige wichtige andere Rechte wie die freie Bestimmung über den eigenen Aufenthaltsort und das uneingeschränkte Wahlrecht. Jedoch zeigt sich nicht nur dort, aber insbesondere im Strafrecht, dass unter 21-jährige Volljährige noch nicht in jedem Fall als Erwachsene gesehen werden, dass ihr Reifeprozess noch nicht abgeschlossen sein muss. Denn bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres wird dort geprüft, ob sie gemäß ihrer Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichzusetzen sind, also Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen muss, oder ob sie bereits die Reife eines Erwachsenen besitzen, also Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen muss. Eine Person, die das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat, wird als Heranwachsende*r bezeichnet.
Im Sozialrecht (SGB VIII) wird eine weitere Grenze erst bei 27 Jahren gezogen, Junger Volljähriger ist „wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist“.

Das steht im Gesetz

Im achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ist geregelt, inwiefern junge Volljährige unterstützt werden.

§ 41 SGB VIII, Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung

(1) Einem jungen Volljährigen soll Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebens¬jahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden.

(3) Der junge Volljährige soll auch nach Be¬endigung der Hilfe bei der Verselbstständi¬gung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden.

In der Praxis

… wird leider oftmals mit dem Erreichen der Volljährigkeit die Hilfe eingestellt, was nicht der gängigen Rechtslage entspricht. Was mit der Volljährigkeit aber in jedem Fall kommt: Ab dem 18. Geburtstag müssen junge Volljährige alle Anträge bei Behörden auf Hilfe und Geldleistungen selbst stellen.

Das Gesetz wird reformiert

Das Bundeskabinett hat Anfang Dezember 2020 den Gesetzentwurf für ein neues Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes beschlossen. Damit wird das Sozialgesetzbuch VIII, das Kinder- und Jugendhilfegesetz, reformiert. Ziel sind mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen. Wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstreicht, gehören dazu auch 31.000 junge Menschen, die als sogenannte Care Leaver aus der Kinder- und Jugendhilfe entlassen werden. Unter anderem soll die Höhe der Beiträge zur Kostenheranziehung von jungen Menschen deutlich reduziert werden – von jetzt 75 Prozent auf maximal 25 Prozent ihres Einkommens. Junge Volljährige sollen verbindlichere Unterstützung erhalten. Sie können dem Gesetzesentwurf zufolge auch in die Einrichtung zurückkehren, sollte etwas im Leben schiefgehen.

UPDATE: Kinder- und Jugendstärkungsgesetz beschlossen

Care Leaver können künftig mehr von ihrem selbst verdienten Geld behalten

Gute Nachrichten für Care Leaver: Nach dem Bundestag hat nun auch der Bundesrat der umfassenden Reform der Kinder- und Jugendhilfe zugestimmt. Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz soll die Situation vieler Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbessern. Für die Älteren, die bereits eigenes Geld verdienen, bedeutet es auch eine ganz konkrete finanzielle Verbesserung: Sie können künftig mehr von ihrem Einkommen behalten.

Bisher gilt: Wer Geld mit einem Schülerjob, Praktikum oder einer Ausbildung verdient, muss 75 Prozent davon an das Jugendamt weitergeben. Nicht immer wird der volle Betrag tatsächlich eingezogen, aber das liegt allein im Ermessen des Jugendamtes. Um Kinder und Jugendliche darin zu bestärken, für sich und ihr Leben Verantwortung zu übernehmen, soll die Höhe der sogenannten Kostenheranziehung – also der Beteiligung an den Unterbringungskosten – nun deutlich reduziert werden. Künftig sollen nur noch 25 Prozent des Einkommens einbehalten werden. Ein Freibetrag von 150 Euro bleibt bestehen. Einnahmen aus Ferienjobs oder ehrenamtlicher Tätigkeit sind komplett freigestellt.

„Wir begrüßen die Reform der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere auch die Herabsenkung Kostenheranziehung“, sagt Margitta Behnke, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke. „Die Kinder und Jugendlichen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe aufwachsen, haben ohnehin schon einen schwierigeren Start ins Leben als Gleichaltrige, die bei ihren Eltern groß werden. Der Weg in ein eigenständiges Leben wird ihnen bisher zusätzlich erschwert, indem sie kaum Möglichkeiten haben, Rücklagen zu bilden und auf den Führerschein oder die erste eigene Wohnung zu sparen.“ Behnke betont: „Das Prinzip der Kostenheranziehung bedeutet trotz der nun in Aussicht gestellten Verbesserung eine strukturelle Benachteiligung für diese jungen Menschen. Es setzt zudem falsche Anreize: Es bestraft Leistung.“

Aus der Opposition scheiterten zwei Anträge, die Kostenheranziehung ganz abzuschaffen.

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – eines der wichtigsten Projekte von Familienministerin Franziska Giffey (SPD) – hat zum Ziel, den Schutz von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, junge Menschen in Heimen (darunter fallen offiziell auch unsere Kinderdörfer) und Pflegefamilien zu stärken, Teilhabe zu ermöglichen und allen Beteiligten mehr Mitspracherechte zu geben. Es sieht mehr Kontrollmöglichkeiten, aber auch mehr Hilfsangebote vor und soll zudem die Inklusion stärken.

Die Anforderungen, die Kinderheime und andere Einrichtungen für die Erteilung einer Betriebserlaubnis erfüllen müssen, sollen dem neuen Gesetz zufolge erhöht, die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und anderen Akteur*innen im Kinderschutz ausgebaut und verbessert werden. Fachkräfte, die das Jugendamt über gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung informieren, wie zum Beispiel Ärzt*innen oder Lehrer*innen, sollen künftig auch eine Rückmeldung erhalten.

In Deutschland leben knapp 22 Millionen Kinder und Jugendliche bis 27 Jahre. Etwa 1,1 Millionen sind auf die Unterstützung der Jugendhilfe angewiesen. Weitere 360.000 Kinder und Jugendliche brauchen wegen einer Behinderung Hilfen. Viele haben angesichts der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie noch einmal einen erhöhten Unterstützungsbedarf.

Aus der Statistik

Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland haben in 2019 laut Statistischem Bundesamt 1,017 Millionen erzieherische Hilfen für junge Menschen unter 27 Jahren gewährt. Damit wurde ein neuer Höchststand erreicht. In 72 % der Fälle richtete sich die Hilfe an Minderjährige, in 16 % an gesamte Familien und in 12 % an junge Erwachsene.

Doppelt gestraft: Kostenheranziehung in der Jugendhilfe

Kostenheranziehung

Wenn Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten, ist das Grund zu großer Freude. Es ist ein Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Das Geleistete wird meist entlohnt. Jede*r erinnert sich gern an die erste selbstverdiente Anschaffung. Wie sieht das bei den Care Leavern aus?

In Deutschland leben 28 Prozent der 25-Jährigen noch bei ihren Eltern. In der Regel haben sie dann ihr verdientes Geld zur freien Verfügung, sparen an. Viele finanzieren sich davon später die Einrichtung der ersten Wohnung, Auslandsaufenthalte, den Führerschein.

Für junge Menschen in der Jugendhilfe ist die Sachlage anders: Nach §91 bis §94 SGB VIII müssen sie einen Teil ihres Einkommens als Kostenbeitrag an das Jugendamt abgeben. In der Regel sind es 75 Prozent des Nettoeinkommens aus dem Vorjahr.

Auch bei Kallilou aus dem Kinderdorf Berlin ist die Kostenheranziehung derzeit Thema. Mit Hilfe der Pädagogen versucht der 18-Jährige nun, mehr von seiner Ausbildungsvergütung behalten zu dürfen. Der zuständige pädagogische Bereichsleiter erklärt: „Gedanken zur offensichtlichen Benachteiligung gegenüber Gleichaltrigen sind bei betroffenen jungen Menschen keine Seltenheit. Sie denken ‚Andere Azubis dürfen ihr Geld behalten, mir bleibt kaum etwas. Ich werde doppelt bestraft; kann nichts dafür, im Heim leben zu müssen und muss dann noch für die Kosten aufkommen‘. Es ist eine Herausforderung für Pädagog*innen, weiterhin soziale Gerechtigkeit als Wert zu vermitteln, die Frustration aufzufangen und zu motivieren, wo der junge Mensch keinen Anreiz sieht.“

Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey hat die Reduzierung der Kostenheranziehung von 75% auf 25% als ein Thema benannt, das ihr bei der bevorstehenden SGB VIII-Reform (Verlinkung zu: „Das steht im Gesetz) am Herzen liegt. Es ist wünschenswert, dass dieses Vorhaben – zumindest als Kompromiss ­– gelingt und ohnehin benachteiligte Kinder wie Kallilou mehr von ihrem verdienten Geld behalten können.

Catharina Woitke, Kinderdorf Berlin

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Jugendhilfe wird reformiert

Gute Nachrichten für Care Leaver: Sie können künftig mehr von ihrem selbst verdienten Geld behalten.

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