Zuhause ausziehen, endlich selbstständig sein – das ist für jeden jungen Menschen aufregend und manchmal herausfordernd. Nicht alle können selbst darüber entscheiden, wann sie sich bereit dafür fühlen. Für Jugendliche, die in einem Kinderdorfhaus aufwachsen, steht in der Regel fest: Mit 18 Jahren müssen sie auf eigenen Beinen stehen. So auch für Pieer und Justin aus dem Albert-Schweitzer-Familienwerk Mecklenburg-Vorpommern.

Frühjahr 2020. Ein kühler Tag in Wolgast auf der Insel Usedom. In der Geschäftsstelle des Familienwerks treffen wir Pieer. Er ist gerade 18 geworden – und auf Wohnungssuche. Mit sechs Jahren ist er zusammen mit seiner kleinen Schwester ins Kinderdorfhaus gezogen. Jetzt läuft die Hilfe für ihn aus. Und langsam spürt er schon ein wenig Druck. Denn dass er sich mit der Suche nicht mehr lange Zeit lassen kann, ist ihm bewusst. „Das ist eben die gesetzliche Grundlage“, sagt Pieer. Die Kinderdorffamilie selbst wolle ihn ja nicht unbedingt „weghaben“. Und auf die eigenen vier Wände freut er sich auch. Etwas Muffensausen ist dennoch dabei, wie er zugibt.

Und aktuell auch: Stress. Nach der Arbeit – Pieer möchte Erzieher werden und ist gerade im ersten Ausbildungsjahr zum Sozialassistenten – stehen momentan nicht Freizeit und Entspannung, sondern Wohnungssuche und Behördengänge auf dem Programm. Pieer muss Anträge auf Unterstützung stellen. Auch, weil er bei seiner schulischen Ausbildung bisher noch nichts verdient, dafür aber Schulgeld und Zugtickets bezahlt werden müssen. Um Geld zu sparen, sucht er eine Wohnung in der Nähe seines Ausbildungsplatzes – obschon er eigentlich lieber in seiner vertrauten Umgebung geblieben wäre.

Beim Ausfüllen der Formulare und Terminen auf dem Amt bekommt er derzeit noch Hilfe aus dem Familienwerk. „Ich werde echt gut unterstützt“, sagt Pieer, der sehr dankbar ist für die Hilfe. Er weiß: „Das macht die Mitarbeiterin zum Teil in ihrer Freizeit.“ Ohne sie wüsste er nicht, ob er das alles schon so gut hinbekommen würde: „Vorher hat Behördengänge immer jemand für einen übernommen. Auf einmal muss man das allein schaffen und Sachen machen, von denen man noch nie gehört hat.“ Ob er sich erwachsen fühlt? „Manchmal denke ich schon. Manchmal fühle ich mich aber auch eher noch wie 16“, gesteht Pieer.

16 – so alt war Justin bei seinem Auszug. Während er neben Pieer auf dem Sofa in der Geschäftsstelle des Familienwerks sitzt, erzählt er vom ersten Jahr in seinen eigenen vier Wänden. „Mit dem Geld klarzukommen – das musste ich erst lernen“, berichtet der 18-Jährige, der mit 13 Jahren in die Wohngruppe Horizont eingezogen war. Inzwischen klappe das gut: „Ich lege jede Woche zehn Euro an die Seite.“ 75 Prozent seines Nettogehalts muss er jeden Monat abgeben, als Kostenbeitrag an das zuständige Jugendamt, das die Mietkosten trägt. Zu dem, was übrigbleibt, bekommt er den Hartz-IV-Regelsatz. „Ich komme damit gut hin“, sagt er.

Justin macht eine Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker, Fachrichtung Schweißtechnik. Er ist im zweiten Lehrjahr und stolz auf das, was er schon erreicht hat. Es sei schön, eine eigene Wohnung zu haben, einen ganz privaten Rückzugsort. Aber ja: „Es kann auch schnell langweilig und einsam werden.“ Dann treffe er sich mit Freunden. Er hat sich gut eingerichtet in seinem neuen Alltag. Nur Wäsche zusammenlegen und abwaschen, das mag er nach wie vor nicht. Wie wohl die wenigsten Jugendlichen – und Erwachsenen.

„Ich habe tolle Unterstützung bekommen und bekomme sie noch“, sagt Justin. Ein- bis zweimal in der Woche trifft er sich mit seiner Betreuerin, mal bei sich in der Wohnung, mal in den Räumen des Familienwerks. „Das hilft mir wirklich“, betont Justin. Er wolle auf jeden Fall beantragen, dass diese Unterstützung verlängert wird. Zu wissen, dass er noch nicht alles ganz allein bewältigen muss, tut ihm gut. Doch: Wie lange das noch so bleibt, darüber entscheidet das Jugendamt.

Dort hat auch Pieer schon einen Antrag auf Unterstützung nach seinem bevorstehenden Auszug gestellt: „Ich weiß ja noch nicht, wie allein zu wohnen wirklich läuft. Aber ich denke, ich brauche am Anfang noch Hilfe.“ Wenn sein Antrag bewilligt wird, wird er wie Justin eine Betreuungsperson zu Seite gestellt bekommen – eine Person, die er noch nicht kennt, zu der er eine ganz neue Beziehung aufbauen muss.

Eines weiß er sicher: Den Kontakt zur Kinderdorffamilie möchte er halten, allein schon wegen seiner Schwester. Und wer weiß, vielleicht wird er als Erzieher später selbst Jugendliche in die Selbstständigkeit begleiten. „Irgendwie wäre es ja schon cool, irgendwann das Haus zu übernehmen, in dem man selbst aufgewachsen ist“, sagt er. Aber die Frage, in welchem Bereich er tatsächlich einmal arbeiten möchte, ist für ihn noch offen. Wichtiger ist jetzt, eine Wohnung zu finden – und wie das Jugendamt über seinen Antrag entscheidet.

Ein Jahr später. Justin ist angekommen in seinem „neuen“ Leben. Der Kontakt zu den Betreuer*innen des Familienwerks ist nach und nach eingeschlafen. Justin kommt nun ohne Hilfe zurecht.

Pieer hat eine eigene Wohnung gefunden. In Greifswald, wo er auch seine Ausbildung macht. Ambulante Unterstützung bekommt er noch. Ein paar Stunden sind es im Monat. Der Träger ist jetzt – aus logistischen Gründen – ein anderer. Zur Kinderdorffamilie, wo seine kleine Schwester ja noch zuhause ist, hat er aber nach wie vor Kontakt.

Justin und Pieer werden ihren Weg gehen. Diejenigen, die sie auf ihrem Weg begleitet haben, bereiten derweil bereits die nächsten Jugendlichen auf den großen Schritt in die Selbstständigkeit vor. Und auch diese Heranwachsenden spüren diese besondere Mischung aus Aufregung und Muffensausen. Auch für sie entscheiden andere mit, ob sie bereit dafür sind, allein zu leben…

Wir bedanken uns bei Justin und Pieer für ihre Offenheit. Und wünschen ihnen für die Zukunft alles Gute!

Sabrina Banze, Bundesverband