Aus einem Dutzend ist eine einzelne Kinderdorffamilie geworden: Familie Meininger ist die Letzte ihrer Art im Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt. Nicht etwa, weil Kinderdorffamilien nicht mehr gebraucht würden in der Region: „Wir finden einfach keine Hauseltern“, sagt die zuständige Bereichsleiterin Dagmar Hellfritsch. Doch der Verein gibt die Suche nicht auf. 

Dagmar Hellfritsch hat vor 30 Jahren selbst als Hausmutter beim Familienwerk angefangen. Zwei Kinder-Generationen hat die Diplom-Sozialpädagogin und ausgebildete Familientherapeutin gemeinsam mit ihrem Mann großgezogen, dazu ihre drei eigenen Kinder. Die jüngste Tochter wurde quasi mitten ins Kinderdorfleben hinein geboren.

„Als ich angefangen habe, waren wir noch zwölf Kinderdorffamilien“, erinnert sich Hellfritsch. „Als ich die Bereichsleitung übernommen habe, gab es noch sieben.“  Das war 2008. Heute gibt es nur noch Familie Meininger in Magdeburg. Daneben sogenannte Kleinstwohngruppen, die im Schichtdienst arbeiten, sowie eine Erziehungsfachstelle.

Neue Kolleg*innen werden dringend gesucht

Die Gründe dafür, warum über die Jahre elf Hauseltern-Paare aufgehört haben, sind so unterschiedlich wie die Paare selbst: andere Pläne, sich verändernde Beziehungen, Zeit für den Ruhestand. Das große Problem dabei für den Verein: Er fand und findet, zumal in Zeiten des Erzieher*innenmangels, keine Nachfolger*innen.

„Kinderdorffamilie – das ist schon nochmal eine andere Lebenswelt, als wenn man nach dem Dienst nach Hause geht“, sagt Dagmar Meininger, die 2005 gemeinsam mit ihrem Mann Enrico eine Kinderdorffamilie übernommen hat. Zuvor hatte sie als Erzieherin in einer anderen Familie gearbeitet. Das System Kinderdorf gefiel ihr. Sie wechselte damals schneller als geplant die Rolle, weil die Stelle vakant war und für die verbliebenen Kinder dringend eine Lösung hermusste. Ihr Mann und ihr Sohn zogen mit ins Kinderdorfhaus. Ein wenig überrumpelt habe sie das damals schon, sagen beide Eheleute rückblickend. Der Anfang sei auch durchaus holprig gewesen. Doch heute sind sie glücklich mit der Entscheidung, die sie damals so schnell treffen mussten.

Es soll weitergehen

In anderen Fällen fand sich niemand, der übernehmen wollte. Das Familienwerk musste pragmatisch handeln. „Wo es möglich war, haben wir Kinderdorffamilien in Wohngruppen umgewandelt, wenn die Hauseltern aufgehört haben“, erläutert Dagmar Hellfritsch. Pädagogisches Personal und Kinder seien schließlich oft noch da gewesen. Für sie sollte es weitergehen. Doch nicht für jedes Kind funktioniert die Betreuung im Schichtdienst gut. Hellfritsch: „In der Kinderdorffamilie steckt einfach so ein Versprechen drin: Bei uns kannst du groß werden.“ Der Abschied von den Hauseltern sei für manche Kinder ein enormer Einschnitt gewesen.

Auch als Dagmar Hellfritsch 2008 ihren Leitungsposten antrat, waren noch zwei ihrer Schützlinge bei ihr, 14 und 15 Jahre alt. „Wir haben die beiden dann damals mitgenommen. Natürlich, nachdem wir sie gefragt hatten, ob sie das möchten! Und nicht als Angestellte des Trägers, sondern als private Pflegeeltern. Beruflich hatte ich ja eine neue Aufgabe im Verein“, erzählt Hellfritsch.

Zu ihren Aufgaben gehört heute auch die Personalsuche für Kinderdorf und Kindertagesstätten. Neue Hauseltern hat sie bislang jedoch nicht finden können, weshalb ein derzeit noch leerstehendes Kinderdorfhaus nun ebenfalls zur Wohngruppe werden wird.

Wie erklärt sich die Bereichsleiterin, dass keine Bewerbungen kommen? „Der Anspruch an Freizeit ist heute vermutlich einfach ein anderer“, antwortet Hellfritsch. „Wenige Menschen können sich offenbar vorstellen, in einem so großen Verbund zu leben – mit allem, was dazugehört. Noch dazu bedeutet der Job einen Sack voll Verantwortung, die ist nicht jede*r bereit zu übernehmen. Und: Wir sprechen hier ja auch von einer besonderen Familienform, in der sich Privates und Profession stark vermischen. Eine Kinderdorffamilie führt ein zu großen Teilen öffentliches Leben.“  Fachliche Voraussetzungen gilt es außerdem zu erfüllen. Und doch: „Die Arbeit ist wunderbar vielfältig und erfüllend“, weiß Hellfritsch aus Erfahrung. Und so sucht sie weiter nach potenziellen Hauseltern.

Ein besonderes Bindungsangebot

Der Bedarf an familienanaloger Betreuung ist nach wie vor sehr groß. Auch in Sachsen-Anhalt. Kinderdorffamilien stehen für ein besonderes Bindungsangebot. Viele Platzanfragen der Jugendämter hat Dagmar Hellfritsch in den vergangenen Monaten ablehnen müssen. Hinter jeder davon steht ein Kind. „In etwa 80 Prozent der Anfragen geht es um unter Dreijährige“, berichtet die Bereichsleiterin. „Für die ganz Kleinen ist eine Schichtdienstgruppe mit wechselndem Personal oft eine riesige Herausforderung“, weiß sie. Auch Geschwister versuche das Jugendamt oft verzweifelt unterzubringen. „Gerade konnten wir tatsächlich drei Geschwister in einer unserer Wohngruppen aufnehmen, weil wir zufällig drei freie Plätze hatten“, freut sich Dagmar Hellfritsch über diesen seltenen Glücksfall. Sie hätte die Plätze gleich mehrfach belegen können, so viele Anfragen hat sie erhalten. Nach nur 30 Minuten war die Wohngruppe wieder voll belegt.

Manchmal – vor allem dann, wenn das Jugendamt wieder einmal nach einem Platz für ein sehr kleines Kind sucht, für das eine Schichtdienstgruppe nicht das Richtige ist – möchte Dagmar Hellfritsch am liebsten spontan selbst in die Bresche springen. Doch die inzwischen 60-Jährige weiß, dass das auch nicht die Lösung sein kann. Sie hatte diese Rolle 15 Jahre lang inne. Und hat auch heute noch viel Kontakt zu ihren früheren Schützlingen. Sie ist da, pflegt die Beziehung, ist Sorgentelefon und Vertraute. Ihr Beruf aber ist das eben nicht mehr.

„Das beste System, das es gibt“

Dagmar und Enrico Meininger können sich dagegen noch nicht vorstellen, keine Hauseltern mehr zu sein. Die 50-Jährige und der 51-Jährige betreuen inzwischen ihre dritte Kinder-Generation. Die Jüngste ist acht, die Ältesten 15 Jahre alt. Alle sieben Kinder möchte das Ehepaar in jedem Fall noch in die Selbstständigkeit begleiten. Danach – mal schauen. Nur noch einmal sehr kleine Kinder aufzunehmen, das können sie sich nicht mehr vorstellen.

Beide sind sich einig: Eine Kinderdorffamilie ist für Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, „das beste System, das es gibt“. „Es ist ein Zuhause“, sagt Dagmar Meininger. „Bindung und Beziehung sind hier anders möglich, als wenn jeden Tag jemand anderes im Dienst ist. Das merken wir ja schon, wenn wir mal im Urlaub sind. Feste Bezugspersonen sind einfach wichtig.“

Ebenso wie ein gut funktionierendes Team an der Seite der Hauseltern, wie Enrico Meininger betont. Dass eigentlich immer andere Menschen im eigenen Zuhause präsent sind, könne manchmal schon ziemlich anstrengend sein, gibt der gelernte Lichtreklamehersteller zu, der vor 13 Jahren noch einmal beruflich umgesattelt hat und nun wie seine Frau Erzieher ist. Hausvater ist er seither nicht mehr nur ehrenamtlich. Er arbeitet jedoch auch noch in einer anderen Einrichtung des Familienwerks. „Die Kolleginnen wissen genau, wie wir leben“, sagt Enrico Meininger. „Da braucht es schon Vertrauen. Die Leute in unserem Team sind zum Glück alle schwer sympathisch.“ Seine Frau stimmt zu: „Auch ein ähnlicher Erziehungsstil ist wichtig. So können wir eine stabile Struktur schaffen, in der die Kinder immer wissen, woran sie sind. Wir ziehen hier alle an einem Strang.“

Wenn Meiningers irgendwo erzählen, was sie beruflich machen und wie sie leben, ernten sie oft Staunen und Bewunderung. Für sie selbst ist ihr Modell dagegen ganz normal. „Das ist halt unser Leben“, sagt Enrico Meininger. „Und es macht uns großen Spaß.“

Vereinbarkeit und soziale Verantwortung

Soziale Verantwortung ist für Dagmar und Enrico Meininger ein elementarer Antrieb. „Wenigstens ein paar Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.“ Die beruflichen Vorteile des Kinderdorflebens liegen für das Paar zudem klar auf der Hand. Der wohl größte: Zeit für die eigenen Kinder zu haben. Als sie Hauseltern wurden, war der gemeinsame Sohn erst zweieinhalb Jahre alt, Dagmar Meininger gerade schwanger mit der heute 17-jährigen Tochter. „Natürlich macht man sich immer Gedanken, ob nicht irgendjemand zu kurz kommt. Gefühlt hat man immer zu wenig Zeit. Und klar gab es auch schon mal Neid“, gesteht Dagmar Meininger. Doch es habe für ihre Familie immer gut gepasst. Und der heute 21-jährige Sohn studiert nun selbst Soziale Arbeit. Nicht zuletzt genießen sie es auch, persönliche Interessen in den Kinderdorfalltag integrieren zu können. „Wir gehen mit den Kids paddeln, haben unsere Holzwerkstatt, machen Musik.“ Seit 2015 veranstalten sie einmal im Jahr sogar ihr eigenes kleines Festival: Das „SugarWood“ ist inzwischen eine Institution.

Nichtsdestotrotz sehen die beiden auch Möglichkeiten zur Verbesserung des Konzepts Kinderdorffamilie. Kleinere Gruppengrößen etwa. Und mehr Offenheit für Bewerber*innen, die dem lange gelebten Prinzip „ein Partner wird angestellt, der andere füllt seine Rolle ehrenamtlich aus“ nicht entsprechen, weil sie zum Beispiel alleinerziehend sind oder beide Pädagog*innen. Berufs- und auch Lebenserfahrung finden die sturmerprobten Hauseltern allerdings wichtig: „Für jemanden, der gerade erst mit der Ausbildung fertig ist, ist das eher nichts.“

Hoffnung

Dagmar Hellfritsch setzt dennoch nicht nur darauf, dass Meiningers noch lange Lust haben, Heranwachsenden einen Platz zum Großwerden zu bieten. Sie hegt auch die Hoffnung, dass Praktikant*innen, die in den Alltag der Kinderdorffamilie eine Weile hineinschnuppern konnten, vielleicht auf die Idee kommen: Das mache ich auch! Damit es in Zukunft wieder mehr Kinderdorffamilien gibt, in denen Kinder geborgen aufwachsen können. Das ist auch der Wunsch von Dagmar und Enrico Meininger: „Neue Kolleg*innen! Damit wir nicht aussterben.“

Sabrina Banze, Bundesverband
Fotos: Konstantin Börner