Jürgen Geister. Foto: Konstantin Börner

In der Ecke des Büros von Jürgen Geister steht eine Gitarre. Er hat länger nicht auf ihr gespielt. Nach seinen persönlichen Leidenschaften gefragt, hält der Geschäftsführer des Albert-Schweitzer-Familienwerks Sachsen-Anhalt einen Moment lang inne und greift schließlich nach dem Instrument. Die ersten Akkorde erklingen – und lassen die Kolleg*innen in den angrenzenden Büros aufhorchen. Auf dem Flur der Geschäftsstelle in Zerbst wird sich bald einiges verändern. Das ist allen, die hier arbeiten, bewusst. Denn zum Jahresende geht der Chef in den Ruhestand.

31 Jahre lang hat Jürgen Geister für das Familienwerk gearbeitet. Als er anfing, war der Verein gerade zwei Jahre alt und suchte dringend einen Psychologen. An den Tag, als er zum Bewerbungsgespräch nach Zerbst kam, erinnert Geister sich noch gut. „Es war kalt und hat geregnet, die Straßen waren voller Schlaglöcher und Zerbst lange nicht so schön wie heute.“ Abgehalten, den Job anzunehmen, hat ihn das nicht.

Jürgen Geister stammt aus der Hansestadt Osterburg in der Altmark. Und hatte ursprünglich einen ganz anderen beruflichen Weg eingeschlagen: „Nach meinem Studium in Magdeburg habe ich als Diplom-Ingenieur in der Wasserwirtschaft gearbeitet“, erzählt der 67-Jährige. Nebenbei hat er das Schmiedehandwerk erlernt. „Das war aber eher mein Hobby.“  Nun: Wie wird ein Ingenieur mit Faible fürs Handwerkliche zum Psychologen?

Vor der beruflichen Veränderung kommt ein zur damaligen Zeit alles andere als einfacher Ortswechsel: Geister will die DDR verlassen und mit seiner Familie in den Westen gehen. Er stellt einen Ausreiseantrag. 1986 zieht er mit Frau und Tochter nach Wolfenbüttel. „Dort war es schwierig für mich, Arbeit zu finden“, erinnert er sich. So entsteht sein Plan B: Mit 30 Jahren beginnt er noch einmal ein Studium. Dieses Mal schreibt er sich für Psychologie ein.

Seine erste Stelle bekommt er in einem kirchlichen Kinderheim. Den Bereich Jugendhilfe habe er sich sehr bewusst ausgesucht, sagt Jürgen Geister, der noch mehrere Therapieausbildungen anschließt. 1992 hat er schließlich das Vorstellungsgespräch beim Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt. Er geht zurück nach Ostdeutschland. Und bleibt.

Sein Büro ist anfangs eine Kammer unter dem Dach des Geschwister-Scholl-Heims (eine der stationären Einrichtungen des Vereins). Er ist viel unterwegs, besucht Einrichtungen, organisiert therapeutische und pädagogische Hilfen. „Es hat mich immer wieder begeistert und erstaunt, welche großartigen Ressourcen in Kindern und Jugendlichen entdeckt werden, sobald das Umfeld bereit ist, mit offenen Augen darauf zu schauen“, sagt er, der viele Heranwachsende mit oft schweren Schicksalen begleitet hat. Er weiß, wie heilsam das richtige Umfeld sein kann.

Bald stellt das Familienwerk zwei weitere Psychologen ein. Jürgen Geister baut den Begleitenden Dienst für die Region auf. Und gestaltet die Gesamt-Entwicklung des Trägers mit. 2007 übernimmt er die Geschäftsführung des Vereins.

Das menschliche Miteinander bei der Arbeit ist ihm wichtig. „Es geht nicht ohne Auseinandersetzungen, aber wenn man mit Wohlwollen aufeinander zugeht, macht das einen großen Unterschied“, findet er. In der Geschäftsstelle in Zerbst gibt es täglich gemeinsame Kaffee- und Mittagsrunden. Geister sitzt mit dabei – dass er der Chef ist, spielt keine große Rolle. Er trägt auch nicht oft Anzug, sondern viel lieber bunt gemusterte, lässige Hemden. Zu Terminen fährt er gern auch mal mit dem Motorrad.  Seine Mitarbeiter*innen, das wird in vielen Unterhaltungen deutlich, schätzen ihn als Vorgesetzten. Und als Menschen.

Vieles verändert sich mit der Zeit. Die Kinder, für die Plätze angefragt werden, werden immer jünger. Zu Kinderdorffamilien, Kitas und Co. kommt nicht nur die Intensivpädagogik hinzu. „Insgesamt ist alles professioneller geworden – und damit auch bürokratischer“, fasst Jürgen Geister die Entwicklung zusammen. „Früher sind wir einfach spontan mit sieben oder acht Jugendlichen losgefahren: Zelten in Schweden. Ein Abenteuer erleben. Das würde heute so gar nicht mehr gehen“, sagt er. Der direkte Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen, den er in den ersten Jahren hatte, fehlt ihm schon manchmal. Aber vor allem frustriert ihn, dass die Suche nach Personal so schwierig geworden ist: „Wir können den Bedarf an Betreuungsplätzen nicht decken, weil uns Fachkräfte fehlen.“ Ein leerstehendes Kinderdorfhaus würde Jürgen Geister gern wieder mit Leben füllen. Doch er findet keine Hauseltern.

Seine eigene Nachfolge ist indes geregelt: Steffen Rektorik, bisher Leiter der Intensivpädagogik, wird ihn als neuer Geschäftsführer des Familienwerks ablösen. Kurz zuvor feiert Geister seinen 68. Geburtstag. Er hat das Familienwerk durch die schwierige Corona-Zeit gebracht. War insgesamt mehr als drei Jahrzehnte mit ganzem Herzen dabei. Jetzt ist er bereit für einen neuen Lebensabschnitt. Er freut er sich schon darauf, künftig mehr Zeit mit seinen drei Enkelkindern zu verbringen, mit seinem Motorrad unterwegs zu sein, Bogenschießen zu gehen. Und vielleicht auch wieder öfter zu Gitarre zu greifen…

Sabrina Banze, Bundesverband

Foto: Konstantin Börner