Das Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt hat seit dem 1. Januar 2024 einen neuen Geschäftsführer. Den Verein kennt der schon sehr gut: Seinen ersten Arbeitstag im Familienwerk hatte Steffen Rektorik bereits 2003.

Der 54-Jährige hat damals als Erzieher in einer intensivpädagogischen Einrichtung des Familienwerks begonnen. „Die Bedingungen waren zu der Zeit noch ganz andere“, erinnert er sich. „Wir hatten es vor allem mit kriminell gewordenen und verhaltensauffälligen Jugendlichen zu tun – Drogen, Raub, Gewaltdelikte.“ Immer wieder sei es auch zu Übergriffen auf die Erzieher*innen gekommen. Rektorik wusste schnell: Es muss sich etwas ändern. „Ich hatte die Wahl: Entweder, ich höre gleich wieder auf, oder ich mache es anders.“ So wurde er 2004 Teamleiter – und machte es anders.

Die Einrichtung zog um, Rektorik und sein Team schufen bessere Bedingungen für die Sicherheit der Mitarbeitenden und Jugendlichen: Zwischentüren, Rückzugsräume. „Ab dem Tag, an dem wir all das hatten, brauchten wir es eigentlich nicht mehr“, erzählt Rektorik. „Wenn ich mich als Pädagoge sicher fühle, strahle ich das auch aus. Es gibt mir Handlungssicherheit.“

Wertschätzung, Sicherheit, Mitsprache und Vertrauen

Wie bedeutsam gute Arbeitsbedingungen sind, weiß Steffen Rektorik also aus eigener Erfahrung. Deshalb sind sie ihm auch als Geschäftsführer besonders wichtig. „Ein wertschätzender Umgang miteinander steht an erster Stelle. Das möchte ich aber gar nicht so oft sagen, denn man muss es nicht benennen, sondern leben. Mir ist das in meinen ersten Berufsjahren als Erzieher leider selten widerfahren. Ich möchte es vorleben, andere damit anstecken und eine Haltung etablieren, die uns auszeichnet.“

Transparenz und Sicherheit seien ebenso wichtig, findet Rektorik. Und: „Mitsprechen können und auch gehört werden. Das gilt übrigens ebenso für die Kinder und Jugendlichen.“ Er will hinter und vor seinen Leuten stehen. Dazu gehört für ihn, den Mitarbeiter*innen zu vertrauen und ihnen auf Grund ihrer Kompetenzen auch etwas zuzutrauen. Ein freies, kreatives Arbeiten und eigene konstruktive Ideenentwicklungen in den Teams zu ermöglichen, sei ein wichtiger Baustein.  „Dass das im Familienwerk möglich ist, habe ich vom ersten Tag an gemerkt – wenn auch nicht, ohne mir Beulen zu holen, das gehört dazu.“ Sein Vorgänger Jürgen Geister habe ihm mit seiner Art der Personalführung bereits den Weg geebnet, ist Steffen Rektorik dankbar.

30 Jahre Berufserfahrung

„Ich arbeite seit 1990 in meinem Beruf. Drei Jahrzehnte Erziehung zu beobachten ist schon spannend“, sagt der Vater einer erwachsenen Tochter. Die Kinder und Jugendlichen hätten sich verändert, auch in der Intensivpädagogik. „Wir haben es heute deutlich mehr mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun und mit den Folgeerscheinungen dieser Traumata.“ Die Ursache dafür sieht Rektorik in einer gesellschaftlichen Entwicklung, darin, „wie die Gesellschaft mit den Kindern umgeht“. Auch Medien spielten eine Rolle. Fehlende Grenzen. Psychische Erkrankungen der Eltern. „Das sind ja quasi die Jugendlichen, die früher bei uns waren.“ Die Aufgabe der Erzieher*innen sei es, die Kinder und Jugendlichen zu begleiten, zu stärken und emotional zu stabilisieren. Das Schaffen eines sicheren Ortes und ein kontinuierliches Beziehungsangebot – in möglichst kleinen, persönlichen Einrichtungen – ermögliche es den Kindern und Jugendlichen, Vertrauen zu fassen und den Mut aufzubringen, das eigene Leben mit zu gestalten.

Rektorik baute neben der Leitung eines Hauses eine weitere intensivpädagogische Einrichtung in Zerbst mit auf, absolvierte berufsbegleitend eine Ausbildung als Anti-Gewalt-Trainer. Er gab Schulungen für die Kolleg*innen anderer Einrichtungen des Familienwerks. Lernte den Verein auf diese Weise immer besser kennen.

2012 wurde der gebürtige Magdeburger Einrichtungsleiter. In dieser Rolle hatte er zuletzt die Verantwortung für 40 Mitarbeiter*innen. Heute, als Geschäftsführer, sind es 440.  Er habe den Job eigentlich gar nicht gewollt, gibt er zu. Doch als klar war, dass Jürgen Geisters Ruhestand naht und ein Nachfolger gesucht wird, sagte sein Team: „Mach du das doch!“ Rektorik wehrte ab, begann dann aber, darüber nachzudenken. Schließlich traute er sich und bewarb sich auf den Posten.

An der Stelle muss Steffen Rektorik lachen. Denn: Erzieher hatte er ursprünglich tatsächlich auch nicht werden wollen. „Mein Wunschberuf war das nie.  Meine Eltern waren beide Erzieher und Lehrer. Und ich habe viel Zeit als Erzieherkind in einer Kinderheimgruppe verbracht. Deshalb wollte ich alles werden, aber niemals Erzieher.“ Als er 1990 seinen Grundwehrdienst beendet hatte, sei im Osten jedoch nichts mehr gegangen. „Kein Studium, keine Ausbildung, keine Arbeit. Mein Vater war damals Leiter eines Kinderheims – und so habe ich dort angefangen“, verrät Rektorik. Inzwischen hat er mehr als 30 Jahre Berufserfahrung und übt seinen Job mit Überzeugung und Leidenschaft aus.

Mehr Sichtbarkeit für das Familienwerk

Die direkte Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen hat Steffen Rektorik immer wieder vermisst, seit er eine Leitungsrolle hatte. „Ich habe häufig noch Dienste übernommen, wenn Not am Mann war“, erzählt er. Jetzt bleibt ihm zum Vermissen keine Zeit, denn er schiebt als Chef derzeit viele Dinge parallel an. Da noch immer oft „Not am Mann“ ist, ist eines seiner wichtigsten Ziele, neue Fachkräfte zu gewinnen. „Nur, wenn wir genügend qualifiziertes Personal in unseren Einrichtungen haben, sind wir in der Lage, qualitativ hochwertig zu arbeiten und unsere Wirtschaftlichkeit zu erhalten“.

Deshalb will Rektorik für mehr Sichtbarkeit sorgen. „Wir sind einer der größten Arbeitgeber hier, aber uns müssen mehr Menschen kennen!“ Digitalisierung ist ein weiter wichtiger Punkt auf Rektoriks To-Do-Liste. Die Pädagog*innen sollen Zeit haben, sich auf die Kinder und Jugendlichen zu konzentrieren, administrative Tätigkeiten möglichst wenig Zeit fressen.

Der Privatmensch Steffen Rektorik

Wenig Zeit hat Steffen Rektorik selbst aktuell für Familie, Hobbies und Freizeit. Seine Frau Andrea hat Verständnis dafür. Sie ist Traumapädagogin und ebenfalls beim Familienwerk beschäftigt (länger als er übrigens), leitet eine intensivpädagogische Wohngruppe. „Klar, ist das manchmal auch anstrengend“, räumt er ein. „Aber wir sind ein super Team. Es hilft, wenn die Partnerin versteht, warum man am Sonntagabend kurzfristig bei der Arbeit gebraucht wird. Und ich habe auch viel von ihr gelernt.“

Das Paar hat zuhause zwei Hunde, von denen einer ein ausgebildeter Therapiehund ist, und drei Katzen. „Früher war ich auch im Tierschutz aktiv“, sagt Rektorik. Dafür hat er nun keine Kapazitäten mehr. Als Referent und Anti-Gewalttrainer ist er dagegen weiterhin tätig. Ehrenamtlich engagiert er sich in der Straffälligenhilfe. Und wenn er doch mal ein paar freie Tage hat, zieht es ihn mit seiner Frau und den Hunden in die Berge oder ans Meer.

Ist es denn nun ein Vor- oder Nachteil, den Verein schon so lange und gut zu kennen? „Ganz klar ein großer Vorteil“, findet Steffen Rektorik. „Ich kenne die Einrichtungen und die Kolleg*innen, habe zu vielen einen guten Draht und weiß um die Befindlichkeiten.“

Sabrina Banze, Bundesverband
Foto: Konstantin Börner